Neurologie: Warum es immer mehr Schlaganfallpatienten gibt
Von Ernst Mauritz
30 Prozent der europäischen Bevölkerung leiden an einer Krankheit des Gehirns. Kopfschmerzen führen mit 152,8 Millionen Betroffen, gefolgt von Schlafstörungen mit 44,9 Millionen, Schlaganfall mit 8,2 und Demenzerkrankungen mit 6,3 Millionen. Doch jetzt warnen die Neurologen: "In unserer älter werdenden Gesellschaft werden viele Gehirnerkrankungen in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen", sagte Montag Eugen Trinka, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation am Uniklinikum Salzburg und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN). "Bis 2030 wird ein Viertel der Bevölkerung älter als 65 Jahre sein."
Der Schlaganfall sei schon jetzt die Todesursache Nummer zwei weltweit, neurologische Erkrankungen insgesamt auf Platz eins der belastenden Beschwerden. Für die Behandlung dieser Erkrankungen stehen derzeit österreichweit 1397 Neurologen zur Verfügung, davon sind allerdings 656 älter als 55 Jahre. "47 Prozent erreichen in den nächsten zehn Jahren das gesetzliche Pensionsalter. Gleichzeitig werden wir aber in Zukunft bis zu 20 Prozent mehr Neurologen brauchen", betonte Trinka. Anlass der Aussagen ist die 16. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie, die von 20. bis 22. März in Eisenstadt stattfindet.
Derzeit im Spitzenfeld
Österreich zählt bei der Qualität der Schlaganfallversorgung zu den fünf besten Ländern in Europa. Dies hängt mit dem flächendeckenden Netz von Schlaganfalleinheiten - 39 sind es derzeit - zusammen, die das gesamte Bundesgebiet abdecken. "Vor mehr als 20 Jahren war ein Schlaganfall eine unbehandelbare Krankheit", sagt Dimitre Staykov, Leiter der Neurologie im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Eisenstadt. Heute ist das ganz anders:
- Mehr als 20 Prozent der Patienten erhalten eine intravenöse gerinnselauflösende Therapie (Thrombolyse), dieser Prozentsatz könnte aber auf 30 Prozent gesteigert werden. Für diese Therapie gibt es ein Zeitfenster von rund viereinhalb Stunden, je früher sie aber angewandt wird, desto besser ist es.
- Bei großen Gefäßverschlüssen mit Gerinnseln (Thromben), die länger als acht Millimeter sind, reicht diese Therapie allerdings nicht aus. Diese Blutpfropfen können in vielen Fällen mechanisch entfernt werden: Zumeist über einen Zugang im Leistenbereich wird ein Katheter bis zu dem Verschluss herangeführt. "Dann wird der Thrombus eingefangen und herausgezogen." Rund zehn Prozent der jährlich 24.000 Schlaganfall-Patientinnen und Patienten haben einen derart großen Verschluss.
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Längeres Zeitfenster
Bisher war man bei der zweiten Methode von einem Zeitfenster von maximal rund sechs Stunden ausgegangen. Zwei neue Studien zeigten allerdings, dass der Behandlungszeitraum in bestimmten Fällen auf 16 bis 24 Stunden ausgeweitet werden kann. "Das sind Patienten, bei denen der Hirninfarkt noch nicht so weit fortgeschritten ist und das Gewebe rundherum zwar minderdurchblutet, aber noch nicht von dem Infarktgeschehen betroffen ist", sagt Staykov. Ein bis vier Prozent aller akuten Infarktpatienten könnten von diesem verlängerten Infarktfenster profitieren. Aber der Neurologe betont auch: "Nach wie vor gilt: Zeit ist Hirn. Jede Sekunde zählt."
Trinka: "Die Thrombektomie (also die Gerinnselentfernung durch mechanisches Herausziehen, Anm.) ist derzeit eine der wirksamsten Therapien, die wir in der Medizin haben." Österreichweit ist sie derzeit in neun darauf spezialisierten Zentren möglich: Die Kapazitäten in diesen Zentren müssten ausgebaut und weitere in Österreich eingerichtet werden, betont Trinka.
Aber auch bei den Schlaganfalleinheiten insgesamt gebe es trotz des Spitzenplatzes noch Ausbaubedarf, vor allem im alpinen Zentralraum, betonte Trinka. Derzeit kommen nur 60 Prozent der Patienten mit einem Schlaganfall auf eine spezialisierte Stroke Unit, das Ziel sind aber 90 Prozent. Eine Zentralisierung von Schlaganfalleinheiten auf weniger Standorte würde hingegen die Sterblichkeit der Patienten erhöhen.
Wert einer Therapie sehen
Trinka verwehrte sich auch dagegen, dass immer nur auf die direkten Medikamentenkosten geschaut wird. "Die Krankenversicherungen sehen die direkten Kosten, die Pensionsversicherung hingegen schaut sich die indirekten Kosten (z.B. Arbeitsausfälle, Anm.) an." Wichtig sei es aber, den Wert einer Therapie zu sehen, also auch, welche indirekten Kosten sie vermeidet. "Und die sind wesentlich teurer."
Mangelnde Kostenübernahme bei Migränetherapie
17 Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer in Österreich leiden an Migräne. Für Patienten mit einem chronischen Verlauf und mindestens acht Anfallstagen pro Monat gibt es seit dem vergangenen Herbst ein neues Medikament. Ein Antikörper wird einmal im Monat unter die Haut injiziert. Er blockiert die Wirkung eines Botenstoffes, der an der Schmerzweiterleitung beteiligt ist.
„Eine Reihe an Migränepatienten hat deutlich weniger Kopfschmerzattacken und kann dadurch im Berufsleben bleiben“, sagt Marc Rus, Leiter der Neurologie im Krankenhaus Oberwart im Burgenland. Und das Präparat wirkt auch bei Patienten, die bereits zwei bis vier erfolglose andere Behandlungen zur Verhinderung von Migräneattacken hinter sich haben.
Präparate aus dieser neuen Wirkstoffklasse dürfen nur dann von Neurologen verschrieben werden, wenn andere Therapien nicht gewirkt haben. „Aber der Preis von rund 500 Euro im Monat lässt die Krankenkassen zögern, das neue Medikament zu verordnen.“ Viel zu wenige Patienten, die für diese Therapie in Frage kämen, würden sie deshalb derzeit erhalten.
Aber auch bei seit langem etablierten Migräne-Therapien wie der Medikamentengruppe der Triptane gebe es eine Unterversorgung. Nur sechs Prozent der Betroffenen erhalten die bereits mehr als 20 Jahre alten, spezifisch gegen die Attacken wirksamen Medikamente. Hier spielen auch andere Gründe eine Rolle: „Nur 18 Prozent der Betroffenen finden den Weg zum Neurologen“, erklärte Rus.
Eine negative Folge davon: Viele behandeln ihre Migräne selbst. „Dadurch kommt es aber oft zu einem Übergebrauch an Schmerzmitteln.“
Appell, Kosten zu erstatten
Auch bei einer Therapie gegen eine seltene neurologische Muskelerkrankung bei Kindern (spinale Muskelatrophie) gebe es Diskussionen um die Therapiekosten – „obwohl die Erkrankung damit erstmals behandelbar wird. „Ich muss an die Verantwortlichen appellieren, dass die wenigen Patienten mit seltenen Krankheiten ihre Therapie auch bekommen“, sagte Trinka. Vielmehr sollte man berechnen und erheben, wo im Gesundheitssystem Effizienz verloren geht, wo Untersuchungen und Operationen durchgeführt werden, die nicht notwendig sind.
Service: Nähere Informationen zu den wichtigsten neurologischen Erkrankungen mit Informationsfoldern gibt es auf der Homepage der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie.