Wissen/Gesundheit

Erstmals tödlich Verletzter eingefroren und wiederbelebt

Ein Ärzteteam der medizinischen Fakultät der University of Maryland sorgt weltweit für Schlagzeilen. Die Meldung dahinter ist bahnbrechend – und bizarr zugleich: Demnach haben die Mediziner einen Menschen in einen künstlichen Scheintod-Zustand versetzt – um ihn dann wieder zum Leben zu erwecken.

Die Bemühungen der Ärzte rund um den Chirurgen Samuel Tisherman sind Teil eines Forschungsprojekts. Dessen Ziel: Patienten mit tödlichen Verletzungen zu retten.

"Durchaus surreal"

Behandelt werden ausschließlich Notfallpatienten, die mit lebensgefährlichen Verletzungen (etwa Schuss- und Stichwunden) und enormem Blutverlust in die Uniklinik in Baltimore eingeliefert werden. Weiteres Kriterium: Innerhalb von fünf Minuten nach ihrer Ankunft muss ein Herzstillstand eintreten. In solchen Fällen bleiben behandelnden Ärzten nur wenige Sekunden, um das Patientenleben zu retten. Laut New Scientist bestehe nur eine fünfprozentige Überlebenschance.

Dann kommt die neuartige Methode zum Einsatz: Im Zuge der EPR, wie diese Technik "Emergency Preservation and Resuscitation" ("Notfallkonservierung und Reanimation") abgekürzt wird, wird der Körper des Menschen schnellstmöglich auf zehn bis 15 Grad heruntergekühlt. Das gelingt, indem sämtliches Blut im Organismus durch eiskalte Kochsalzlösung ersetzt wird. Daraufhin hat der Patient so gut wie keine Gehirnaktivität mehr. Er wird vom Kühlsystem getrennt und in den OP gebracht, wo Chirurgen rund zwei Stunden Zeit haben, die Verletzungen zu behandeln – bevor der Patient wieder erwärmt und reanimiert wird. Im Idealfall trägt er keine Schäden davon.

Ein "durchaus surrealer" Vorgang, wie Tisherman, der sich seit den Achtzigerjahren mit Konservierungs- und Wiederbelebungstechniken beschäftigt, im Interview zugibt. Wie viele Menschen er bisher mit der Technik behandelt habe, verriet er nicht. "Mindestens einer" sei es aber.

In Fachkreisen sorgen die Aktivitäten an der US-Universitätsklinik naturgemäß für Furore. Ariane Lewis, unbeteiligte Expertin und Leiterin der Abteilung für neurokritische Versorgung an der New York University, hält die Forschungen für wichtig. Sie seien aber nur ein erster Schritt: "Wir müssen sehen, ob es funktioniert, und erst dann können wir darüber nachdenken, wie und wo wir es einsetzen können", betont Lewis.

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Zellprozesse anhalten

Was wie aus einem Science-Fiction-Roman klingt, hat einen medizinischen Hintergrund: Bei normaler Körpertemperatur – rund 37 Grad Celsius – benötigen menschliche Zellen eine konstante Sauerstoffversorgung. Hört das Herz auf zu schlagen, transportiert das Blut im Organismus keinen Sauerstoff mehr zu den Zellen. Ohne Sauerstoffversorgung kommt es binnen rund fünf Minuten zu irreversiblen Hirnschäden.

Senkt man die Temperatur des Körpers, werden jedoch alle chemischen Reaktionen in den Zellen verlangsamt oder gar gänzlich gestoppt: Sie brauchen weniger Sauerstoff – und das gibt den Ärzten mehr Zeit. Ähnliche Versuche mit Schweinen und Hunden haben gezeigt, dass Tiere mit lebensgefährlichen Verletzungen drei Stunden gekühlt, versorgt und erfolgreich wiederbelebt werden können. "Wir hielten es an der Zeit, es auch an unseren Patienten anzuwenden", schildert Tisherman, der seine vorläufigen Erkenntnisse am Montag auf einem Symposium an der New York Academy of Sciences vorgestellt hat. "Nun tun wir das und lernen viel, während wir den Prozess vorantreiben. Sobald wir nachweisen können, dass es funktioniert, können wir den Nutzen der Technik erweitern, um Patienten zu helfen, zu überleben." Der vollständige Bericht soll planmäßig Ende 2020 veröffentlicht werden.

Von Behörde genehmigt

Dabei handeln die Ärzte um Tisherman nicht auf eigene Faust. Die Forschungsinitiative wurde von der Food and Drug Administration (FDA), der Arzneimittelbehörde der Vereinigten Staaten, genehmigt. Interessant: Die Behandlung bedarf keiner vorherigen Einwilligung. Man geht davon aus, dass die schwerwiegenden Verletzungen der Teilnehmer ohnehin tödlich verlaufen und keine alternativen Behandlungen möglich wären.

Die Bevölkerung von Baltimore wurde über die Medien vom Start des Programmes informiert. Über eine eigene Website kann man sich davon abmelden. Tisherman ist die Surrealität seines Vorhabens durchaus bewusst: "Ich möchte klarstellen, wir versuchen nicht, Leute zum Saturn zu schicken. Wir versuchen, uns mehr Zeit zu verschaffen, um Leben zu retten."

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