Leben/Gesellschaft

Kleiner Garten, großes Glück: Faszination Schrebergarten

Wenn sich Obmann Ernest Kern ein Stückerl aus dem Fenster des Vereinshauses lehnt, ist ein Anflug von Stolz in seinem Gesicht zu erkennen. Die Kleingartenanlage Großjedlersdorf, für die er verantwortlich ist, ist die größte Kleingartenanlage im Wiener Flächenbezirk Floridsdorf. Sie erstreckt sich auf einem riesigen grünen Areal – von der Brünner Straße über einen Kilometer entlang der Siemensstraße bis hin zur Ruthnergasse.

In den 427 Gartenparzellen genießen auch in diesem Sommer gut 1200 Menschen ein Dach über dem Kopf und eine ruhige Grünfläche vor ihrer Haustür, weiß Kern aus seinen Unterlagen. „Zunehmend mehr Gartler – nicht nur in der schönen Jahreszeit, sondern auch im Winter.“

Die Wiener Kleingartenbesitzer können auf eine lange Tradition zurückblicken, wie der Historiker Peter Autengruber in seinem neuen Buch und im KURIER-Interview beschreibt.

Auch Ernest Kern kann das: Vom Vereins- spaziert er über den breiten Hauptweg zum Schutzhaus, wo die Großjedlersdorfer Kleingärtner im kommenden Jahr ihren 100er feiern wollen.

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Im Halbprivaten

Der Weg ist öffentlich zugänglich und genießt dennoch den Nimbus des Halbprivaten.

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Hier grüßt man sich als Nachbar, dort bleibt man für eine Weile stehen, und wieder ein paar Schritte weiter kommt man über den Zaun schnell ins Gespräch. Zum Beispiel mit Günter und Brigitte Walestin, die hier schon im Jahr 1980 ihren privaten Ruhepol gefunden haben und diesen seit zwanzig Jahren sogar ganzjährig bewohnen. Günter macht den Gärtner, seine Frau Brigitte die Qualitätskontrolle. Sie lacht, er nickt höflich, und sie erläutert: „Manchmal muss ich nachhaken.“

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Dann schwärmen beide von ihren Nachbarn, zu deren Grundstücken sie keine Zäune aufgebaut haben. „Wir haben hier eine wunderbare Gemeinschaft“, betont Frau Walestin. Dem einen fehlt Mehl, der andere braucht dringend einen Spengler. „Egal, wir helfen uns gegenseitig. Man lernt auch voneinander. Und ja, die Nachbarn sind immer die beste Alarmanlage, wenn man einmal länger außer Haus ist.“

Über ihren speziellen Freund sagen die beiden mit Augenzwinkern über den Zaun: „Wir sind froh, dass wir einen Obmann haben, den wir auch sekkieren dürfen.“

Spannend, wie unterschiedlich die Schrebergärtner ihre Gärten bewirtschaften: Die einen kürzen, glätten und frisieren ihren Rasen mit kleinen Garten- und Nagelscheren, auch mit chemischen Keulen aus dem Bau- oder Lagerhaus. Die anderen lassen den Löwenzahn und das Kleeblatt leben. Es soll nicht verschwiegen werden: Nicht alle Kleingärtner sind sich ob der divergierenden Gartenphilosophien grün.

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Zankapfel Löwenzahn

Obmann Kern muss hie und da sogar ausgleichend einwirken. Doch anders als in mancher deutschen Laube, in der der preußische Drill jeden zart aus der Reihe wachsenden Ast s-o-f-o-r-t zurechtstutzt, kommen in Wien durchs Reden (auch hinter dem Rücken) die Leut’ zusammen. „Und am Ende finden wir immer zu einem Konsens“, schließt Kern, der sich seine Funktion regelrecht antut. Denn Geld erhält er, der in seinem Brotberuf Telefonanlagen vertreibt, für seine Nebentätigkeit keines.

Für die Mitglieder des Kleingartenvereins haben der gewählte Obmann und sein Ehrenamtlichenteam zuletzt einiges erreicht. Kern zählt auf: „Wir agieren hier de facto wie eine Hausverwaltung.“ Auf imponierend hohem Niveau: „Wir haben unter anderem neue LED-Lampen, neue Türschlösser, neue Wasserabsperrhähne und Stromkästen installiert.“ Auch neue Parkplätze wurden errichtet, einige sind sogar überdacht.

Für Ernest Kern ist sein Amt auch eine Herausforderung: „Wenn etwas nicht hinhaut, muss ich laut Vereinsgesetz den Kopf hinhalten.“ Damit immer alles hinhaut, steckt er 15 Stunden Lebenszeit pro Woche in seine Kleingarten-Agenden.

Einer von 247 Kleingartenvereinen

Der KGV Großjedlersdorf ist einer von vielen. Laut Aufzeichnungen im Zentralverband der Kleingärtner gibt es insgesamt 247 Kleingarten-Vereine in Wien. Diese werden von 26.800 Kleingarten-Bewohnern genützt.

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Viele bezeichnen ihren kleinen Garten als großes Glück. So wie Wolfgang und Marianne Lantzberg. Das Ehepaar wähnt sich hier bereits seit einem Vierteljahrhundert im Paradies: „Wenn wir auf unserer Terrasse sitzen und auf unsere Blumen schauen, dann ist das schon ein gutes Gefühl.“ Die Stadt rundum, die viel befahrene und in ihrer Gesamtheit hässliche Brünner Straße, die eilig und wenig ansehnlich hochgezogenenen Wohnburgen, der viel zitierte politische Kampf um den Gemeindebau – das alles scheint in diesem abgeschotteten Garten Eden weit entfernt.

Immerhin erinnert noch so manche Paradeiserstaude oder das Zitronenbäumchen im Topf an die ursprüngliche Funktion der Wiener Kleingärten. Vor hundert Jahren ging es, wie Historiker Peter Autengruber weiß, weniger um die Naherholung, mehr um die Nahversorgung. Die Wiener Bevölkerung, die im Hungerwinter 1916/17 arg an den Folgen des Weltkriegs litt, bekam vom Kaiserhaus Land, um Erdäpfel, Zwiebel sowie Obst für Säfte und Marmeladen anzubauen. So wurde ein Exerzierplatz im Prater, jener auf der Wasserwiese, zu einem bis heute bestehenden wunderbaren Kleingartenareal umgewidmet.

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Unterernährt wirken Wiens Kleingärtner heute nicht mehr. Einige, speziell jene, die bereits in Pension sind, können sich auch nicht über zu viele Verpflichtungen beschweren. Was bei manchen nicht nur Dankbarkeit und Entspannung hervorruft: Wer den ganzen Tag das Gras (des Nachbarn) wachsen hört, erzählen Kleingärtner aus allen Teilen der Stadt, kann dann und wann dem Nachbarn schon einmal lästig werden.

Ein ehemaliger Obmann in einem anderen transdanubischen Kleingartenverein erinnert sich mit Schrecken, wie man ihn bei einer Jahresversammlung mit Schimpf und Schande bedacht hat, obwohl auch er nur das Beste für seine Gartennachbarn wollte.

Solch unwürdige Szenen blieben Ernest Kern erspart. Er beschwert sich nicht über die Fülle an Verantworlichkeiten, immerhin trat er sein Ehrenamt im Jahr 2013 freiwillig an, nachdem er schon zuvor zwanzig Jahre lang mitgearbeitet hatte. Sein Resümee: „Das ist hier eine sehr nette Gemeinschaft.“ Und ein Diplomat muss der Herr Obmann auch sein: „Mit dabei sind einige wenige mit ganz besonderen Eigenheiten.“

Bevor Kern mit seiner Familie in die große Kleingartenanlage eingezogen ist, hat er in einem Gemeindebau am Rennbahnweg gewohnt. Und er gibt zu: „Eigentlich war meine Frau die treibende Kraft. Sie wollte unbedingt ein Haus im Grünen.“ Das Haus der Kerns ist kein Palast, aber ein Schatzkisterl. Heute ist der Obmann sehr dankbar für diese Entscheidung. Er fasst zusammen, was die Kleingärtner überall freut: „Es ist ein Privileg, hier wohnen zu dürfen. Wenn ich bereits zum Frühstück draußen sitzen kann und die Vogerln zwitschern höre, dann ist das wie Urlaub für mich.“

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Auch der Historiker Peter Autengruber verlässt im Sommer seine Wohnung in der schönen Josefstadt, um in seinem Kleingarten im Westen von Wien die Work-Life-Balance ins Lot zu bringen. „Die Wiener Kleingärten“, erklärt er, „tragen wesentlich zur Lebensqualität dieser Stadt bei“. Auch für jene, die am Rande der Kleingärten wohnen. Sie dürfen sich wenigstens darüber freuen, dass in ihrer Nachbarschaft noch nicht alle freien Flächen zubetoniert und versiegelt wurden.

Und wenn sich dann an lauen Sommerabenden ein Duftteppich aus Holzkohle, gegrilltem Fleisch und Gelsenspray über die Kleingartenanlage legt, alle Rosen, Paprika und Rasenflächen gegossen sind und der letzte Badegast seinem Pool entstiegen ist, scheint die Welt in Ordnung zu sein. Urlaubsfeeling an einem Werktag, mitten in Wien, ganz ohne Reisestress!