Christian Seilers Gehen: Die Stadt ist mein Adventkalender
Von Christian Seiler
Ich gestatte mir heute, mich zu verlieren. Die Stadt ist mein Adventkalender, ich öffne ein Türchen, indem ich durch den leeren Wurstelprater gehe, servus Calafati, dieehre Toboggan, ein zweites, indem ich mir die verbliebene Trabrennbahn neben dem Campus der Wirtschaftsuni anschaue, kein Ross, kein Rennen, ein drittes, indem ich die Bildhauerateliers zwischen Trabrennbahn und Praterstadion in Augenschein nehme, ein viertes, indem ich das Stadion umrunde und durch verschlossene Gittertüren einen Blick auf das Spielfeld erhasche, wo jetzt schon länger keine Mannschaft mehr aufgelaufen ist, und schon gar nicht vor vollen Rängen, immer wieder, immer wieder …
Ich gestatte mir den Umweg Richtung Donau hinüber, gehe an der Sportanlage der Hakoah vorbei und sehe mit Erstaunen, dass der Donaumarina-Tower, der viele Jahre lang nur ein Versprechen war, das demnächst, bald, sicher, vielleicht einmal Wirklichkeit wird, inzwischen tatsächlich Form angenommen hat, in die Höhe wächst, 500 Wohnungen, 41 Stockwerke, unverbaubarer Blick über Wien. Man braucht allerdings ein ehrgeiziges Sparschwein, um ins Bieten um die besseren Etagen einsteigen zu können.
Südosttangente
Noch ein bisschen weiter, nächstes Türchen, ich nehme die Fußgängerbrücke, die unten an die Südosttangente angeklebt ist, und schwebe über Handelskai und die Schienenstränge der Bahnstrecke, die zum Hafen Wien führt, hinüber zur Donaupromenade, während ich im Kopfhörer „Levitating“ von Dua Lipa höre, ein vergnügliches Stück, das, wie der Name schon sagt, zur Leichtigkeit einlädt, und entsprechend genieße ich den kühlen Nachmittag, den scharfen Wind, der mich am Ufer des Stroms empfängt, und gehe vergnügt und fast allein die Promenade Richtung Reichsbrücke, nächstes Fenster meines Adventkalender, nämlich wieder eine Strecke in meiner Nachbarschaft, die ich noch nie zu Fuß abgeschritten habe. Ich betrachte die Anlegestege der Marina, die meisten sind leer. Ich gehe wasserseitig am Hilton Hotel vorbei, das in einem alten Speicher untergebracht ist.
Kaftka und Tegetthoff
Mir bleibt vor allem der ausgelassene Pool des Hotels in Erinnerung. Der Spielplatz am Kafkasteg, zwei Schlepper, die hier den Anker geworfen haben, ein Ausflugsschiff namens Tegetthoff, das Hafenkapitanat – ja, so heißt diese in einem Waschbetonpilz aus den Achtzigern untergebrachte Kommandozentrale im Schifffahrtszentrum Wien, einem erstaunlich anachronistischen Bauwerk, das in normaleren Zeiten dazu beiträgt, ankommende Schiffsreisende zu verwirren, die eigentlich denken, dass Wien im Barockzeitalter stecken geblieben ist – und nicht in der Postmoderne.
Von hier aus betrachte ich die spektakuläre Skyline der Donaucity, die gerade um einen Neubau erweitert wird, und ich freue mich über jedes neue Stockwerk des DC Towers 3, der so melancholisch wie eine Käsereibe aussehen wird. Die Donau gibt sich gleichgültig und schwer. Ich gebe ihr beste Grüße ans Schwarze Meer mit auf den Weg, dann lasse ich sie zurück, gehe hinüber zum Mexikoplatz, wo an einem Kebabstand ein Adventkränzchen stattfindet. Dort bin ich eingeladen.