Chronik/Wien/WOHNKURIER

100 Jahre Gemeindebau: Paläste, für das Volk erbaut

Der Hinweis „Erbaut von der Gemeinde Wien“ prangt auf jeder Front und scheint den Menschen zuzurufen, wer das für sie geleistet hat: Rund 380 Gemeindebauten errichtete die sozialdemokratische Wiener Stadtregierung während der Ersten Republik. Diese „Superblocks“, in denen Infrastruktur wie Kindergärten, Werkstätten und Waschküchen, Lebensmittelgeschäfte, Bildungseinrichtungen, Fürsorge- und Gesundheitseinrichtungen, Arztpraxen aber auch Büchereien, Theater und Sportanlagen unterbracht waren, sind das Kernstück des Roten Wien.

Es sollte mehr als Wohnen sein: Man wollte Gemeinschaft schaffen. „Wir wollen unsere Jugend nicht zu Individualisten, zu Einzelgängern erziehen, sie sollen in Geselligkeit aufwachsen und zu Gemeinschaftsmenschen erzogen werden“, verkündete Bürgermeister Karl Seitz 1924 im Gemeinderat.

Der identitätsstiftende Hintergrund drückte sich auch architektonisch aus: Die großzügigen, detailreich gestalteten Innenhöfe wurden mit dem öffentlichen Straßenraum nur durch ein oder mehrere große Tore verbunden und sorgten mitten in der Stadt für einen privaten Bereich, der öffentlich genutzt werden konnte. Sie machten die Stadt durchlässiger, die Grenzen zwischen innen und außen verschwammen. „Hier zu leben, bedeutete, Teil der Stadt zu sein“, sagt Architekturhistorikerin Eve Blau.

Ringstraße des Proletariats

Volkswohnpaläste nannten sie manche ironisch und bei Gemeindebauten wie dem Reumannhof in Margareten drängt sich dieser Vergleich geradezu auf. Vieles an dem 1924 bis 1926 vom Wagner-Schüler Hubert Gessner erbauten Wohnblock erinnert an einen Palast: Springbrunnen, Arkadengänge und eine Fassade, die einschüchternd wirkt. Der Margaretengürtel, wo die meisten Gemeindebauten errichtet wurden, bekam den Beinamen „Ringstraße des Proletariats“, Monumentalbauten wie der Reumannhof oder der Metzleinstaler Hof, der als erster „echter“ Gemeindebau der Stadt Wien gilt, wurden vom politischen Gegner unfreundlich „Arbeiterfestungen“ und „Trutzburgen“ genannt. „Die Gemeindebauten waren die Inkarnation eines ideologischen Konflikts“, schreibt Eve Blau in ihrem Architekturband „Rotes Wien“.

So revolutionär wie die Namen mancher Gemeindebauten – programmatisch benannt nach Denkern wie Karl Marx und Friedrich Engels oder Widerstandskämpfern wie Otto Haas – war auch das Bauprogramm. Nach dem Ersten Weltkrieg waren fast drei Viertel aller Wiener Wohnungen überbelegte Kleinstwohnungen, die mehr als die Hälfte eines einfachen Arbeitereinkommens kosteten, weder über WC noch über einen Wasseranschluss verfügten und oft nur durch sogenannte Bettgeher finanziert werden konnten. Um für die arbeitende Bevölkerung menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen, errichtete die Sozialdemokratische Arbeiterpartei zwischen 1919 und 1933 mehr als 65.000 Wohnungen. Klein (40 bis 50 Quadratmeter), aber ausgestattet mit Balkons, fließendem Wasser und WC. Gebaut wurde steuerfinanziert mit der von Hugo Breitner eingeführten Wohnbausteuer.

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Private Mietskasernen

Um die Jahrhundertwende hauste die Arbeiterschicht in privaten Mietskasernen unter meist unzumutbaren Bedingungen. Damals entstanden erste Ansätze eines Arbeiterwohnbaus, wie etwa die Werkswohnungen in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik oder auch vonseiten karitativer Stiftungen und Vereine. Doch die Wohnungsnot blieb massiv.

Den Großprojekten der Gründerzeit wie der Ringstraße, dem Ausbau des Gürtels, der Hochquellwasserleitung und der Donauregulierung folgten nach der Jahrhundertwende die Kommunalisierung von Gas, Strom und Verkehr, es wurden Krankenhäuser, Schulen und Bäder gebaut. Der Wohnbau aber wurde der privaten Spekulation überlassen – was zur weiteren radikalen Ausbeutung der untersten Bevölkerungsschichten führte. Schon der Nationalökonom Eugen Philippovich, Mitglied im 1873 gegründeten Verein für Socialpolitik, hatte gefordert, dass man den Bau von Wohnungen nicht länger Privatunternehmern überlassen solle, die öffentliche Hand Wohnungsmieten festlegen müsse und sich dabei einzig an Baukosten sowie Abschreibungen zu orientieren habe.

Auch Architekt Otto Wagner plädierte dafür, Baugrund in öffentliche Hand zu geben, um Bodenspekulationen zu verunmöglichen. Und der christlich-soziale Bürgermeister Karl Lueger setzte mit seiner „Politik für den kleinen Mann“ etliche Initiativen in Richtung moderner sozialer Kommunalpolitik. Doch das Bauprogramm unter Lueger konzentrierte sich hauptsächlich auf das Regierungsviertel in der Innenstadt und das Verkehrswesen.

„Auch wenn sich manche den kommunalen Wohnbau schon früher auf ihre Fahnen heften wollten: Tatsächlich auf den Boden gebracht haben ihn erst die Sozialdemokraten“, sagt Architekturtheoretiker Andreas Rumpfhuber. Die auf ganz Wien verstreuten Orte, an denen Wohnraum geschaffen wurde, gehören in gewisser Weise zum Mythos des Roten Wien: Dadurch, dass die Gemeindebauten auf alle Bezirke Wiens aufgeteilt wurden, konnte jene Ghetto-Bildung verhindert werden, an der andere Großstädte Europas heute noch laborieren.

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Siedlerbewegung

Zunächst hatte die Gemeinde die sogenannte Siedlerbewegung unterstützt, die nach dem Krieg aus verschiedenen Selbsthilfeorganisationen entstanden war. „Wilde Siedler“ errichteten als Folge der katastrophalen Wohnsituation meist im Wienerwald illegale Behausungen, etwa im und um den Lainzer Tiergarten. Von den Behörden mehr oder weniger geduldet, entwickelte sich daraus später die Idee der „Gartenstadt“, aus der ab 1921 die Gemeinwirtschaftliche Siedlungs- und Baustoffanstalt (Gesiba) entstand, und die auch von vielen Architekten unterstützt, jedoch bald vom Konzept der gemeindeeigenen Großwohnanlage abgelöst wurde.

Fast 200 Architekten engagierte die Stadtverwaltung, darunter international renommierte Persönlichkeiten wie Adolf Loos, Josef Frank und Peter Behrens. Mit Ella Briggs und Margarete Lihotzky waren nur zwei Frauen am kommunalen Wohnbauprogramm beteiligt. Die meisten der großen Aufträge gingen an Architekten, die bei Otto Wagner studiert hatten: Karl Ehn, Hubert Gessner, Heinrich Schmid, Hermann Aichinger und Rudolf Perco bauten die berühmtesten Monumente des Roten Wien: den Karl-Marx-Hof, den Reumannhof, den Karl-Seitz-Hof, den Rabenhof, den Fuchsenfeldhof und den Engelsplatzhof.

„Das (...) Programm war so radikal, dass vielleicht auch unterschwellig Momente der Tarnung, des sorgfältigen Einfügens in die Stadtstruktur eine Rolle spielten“, schreibt Architekturkritiker Friedrich Achleitner in seinem Essay „Siedlungshaus und Volkswohnpalast“. Und eben dieses Einfügen wurde von manchen kritisiert. Tenor: Die meisten Gemeindebauten seien eine Imitation des Bürgertums. Neben Josef Frank gehörte auch Adolf Loos zu den Architekten, die zwar für das Rote Wien bauten, jedoch durchaus kritische Stimmen waren. Und so liegt die Faszination des Wohnbaus der Zwischenkriegszeit nicht zuletzt in seiner architektonischen Diversität: Vom opulenten Romantizismus des Reumanhofs bis hin zu klaren, städtischen Strukturen wie etwa im Winarsky-Hof in der Brigittenau.

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