Vermisste Jennifer Scharinger: Rastlose Suche nach Gewissheit
Brigitta Scharinger hat sich wieder auf die Suche gemacht. Sie trägt Gummistiefel. In ihren Kofferraum hat sie einen Spaten und einen Rechen geladen. Ihr Hund begleitet sie. Am Ortsrand des Weinviertler Dorfes Untermallebarn, Bezirk Korneuburg, bleibt sie mit dem Auto stehen. Zwischen Feldern befindet sich ein winziges Waldstück. „Das wäre eine Möglichkeit“, meint die pensionierte Lehrerin. Sie kämpft sich durchs Dickicht, nimmt den Spaten und stochert damit in der Erde herum.
Brigitta Scharinger sucht den Leichnam ihrer Tochter. Heue, Freitag, hätte Jennifer ihren 23. Geburtstag gefeiert.
„Ich kann nicht anders“
Seit 22. Jänner 2018 ist die junge Frau verschwunden. Spurlos. Gegen Mittag verließ sie ihre Wohnung in der Ospelgasse in Wien-Brigittenau. In der Wohnung ließ sie ihre Geldbörse sowie Handy und Pass zurück.
Jennifers Ex-Freund geriet unter Verdacht, etwas mit dem Verschwinden zu tun zu haben. Das Paar hatte sich kurz zuvor getrennt, lebte aber noch gemeinsam in der Wohnung. Doch die Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt.
Brigitta Scharinger hört mit der Suche nicht auf. „Ich kann nicht anders“, sagt sie. Sie verfolgt die Spuren der Polizei weiter. Unter anderem bei Untermallebarn.
Eine Frau dreht mit ihrem Hund eine Runde und kommt an Scharinger vorbei. „Wenn Sie oder der Hund etwas Auffälliges finden, bitte melden Sie das sofort!“, spricht Scharinger die Frau an. Die Dame ist irritiert, Scharinger erzählt die Geschichte ihrer Tochter. Wieder einmal. „Womit ich nichts anfangen kann, ist Mitleid. Das hilft mir nicht“, wird sie wenig später sagen.
„Weitersagen, einfach weitersagen“, appelliert sie vorher an die Frau mit Hund.
Manchmal wird Brigitta Scharinger von einer Freundin begleitet, meist ist sie allein unterwegs. Oft mit einem Metalldetektor: „Wenn Jennifer in dem Koffer eingegraben worden ist, muss der Detektor auf den Zipp anschlagen“, erklärt sie. Der große, schwarze Koffer – er fehlte aus einem Kellerabteil. Die Vermutung der Mutter: Jennifers Leiche könnte in dem Koffer aus der Wohnung gebracht und irgendwo vergraben worden sein.
Vor Kurzem hat Scharingers Bekannte ganz in der Nähe am Galgenberg eine vergrabene Weste gefunden. „Die könnte Jennifer theoretisch gehört haben“, sagt Scharinger. „Sie wird jetzt bei der Polizei untersucht.“
Aufgeben kann die Mutter nicht. „Wenn ich daheim sitzen muss, drehe ich durch. Ich muss es einfach wissen. Vielleicht stoße ich ja zufällig auf irgendetwas. Und wenn nicht, bin ich wenigstens am Abend müde.“
Am Geburtstag ihrer Tochter wird sie die Brigittakirche in Wien-Brigittenau besuchen. Sie ist für die Mutter ein Ort geworden, an dem sie zumindest kurz zur Ruhe kommen kann. „Dabei bin ich kein gläubiger Mensch.“
Der letzte Abend
Alexandra B. hat viel nachgedacht. Darüber, ob sie etwas überhört hat, an diesem Abend. Ob es nicht doch Anzeichen gegeben hat.
Die 23-jährige BWL-Studentin hat den letzten Abend mit Jennifer Scharinger verbracht. „Aber es war wirklich alles ganz normal. Da war nichts Außergewöhnliches“, sagt sie. Es war der 21. Jänner 2018. Die jungen Frauen, die sich schon aus Schultagen kennen, trafen sich auf ein paar Getränke. „Wir mussten beide am nächsten Tag nicht aufstehen, waren bei der Nußdorfer Straße unterwegs“, erinnert sie sich. Jennifer habe positiv gewirkt. Sie erzählte davon, welche Prüfungen sie demnächst für ihr Jus-Studium ablegen wollte. Und dass es ihr in der neuen Abteilung in der SVA, bei der sie arbeitete, gut gefiel. „Sie hatte Pläne“, sagt B.
Erst später erfuhr sie, dass Jennifers Beziehung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr funktioniert hatte. Dass Jennifer sich bereits getrennt hatte – oder dass dies zumindest in naher Zukunft bevor stand; das geht aus Chat-Protokollen hervor.
Gegen Mitternacht verabschiedeten sich die Freundinnen. „Jennifer hat mich noch zur Wohnung begleitet. Und dann hat sie die letzte U-Bahn gerade nicht mehr erwischt“, erzählt Alexandra B. Jennifer rief ihren Ex-Freund an, der holte sie mit dem Auto ab. Das letzte Foto zeigt die junge Frau an diesem Abend mit ihm in einer Tiefgarage.
Das Verschwinden der Freundin war das Schlimmste, was ihr je passiert sei, sagt Alexandra B. „Und es ist immer präsent, du wirst immer wieder damit konfrontiert.“ Früher habe man im Freundeskreis viel darüber gesprochen, was man tun sollte, was passiert sein könnte. Jetzt schweigen viele lieber. „Jeder versteht, was der andere denkt. Ich sage, dass Jennifer weg ist. Aber mir ist klar, dass sie tot ist.“
Sie wünscht sich, dass Jennifers Leiche endlich gefunden wird. Auch wenn dann noch so grauenvolle Details bekannt werden könnten. „Die Ungewissheit ist schlimmer.“