Nach Protesten: Suchthilfe Jedmayer öffnet ihre Türe
Von Julia Schrenk
Schokokekse liegen auf den Tischen im Tageszentrum, eingewickelt in Etiketten mit dem Logo der Suchthilfe. "Für die andere Sucht", sagt Roland Reithofer, Geschäftsführer der Suchthilfe Wien und erntet erste Lacher. Diese Woche hat er erstmals eine Gruppe Besucher durch Tageszentrum und Ambulanz der Suchthilfe Wien, den sogenannten Jedmayer, am Gumpendorfer Gürtel geführt. Zuletzt war das Tageszentrum in den Fokus einer Bürgerinitiative geraten, die Suchtkranke nicht mehr in Wien-Mariahilf behandelt haben will, sondern diese lieber am Stadtrand untergebracht hätten. Der KURIER berichtete.
Mit machen ginge die Fantasie darüber, was im Jedmayer passiert, durch, sagt Reithofer. Deswegen öffnet die Suchthilfe nun ihr Haus für alle Interessierten. "Wir wollen transparent sein", sagt Reithofer. Auch die Sozialarbeiter, die täglich ihre Runden im Grätzel ziehen, laden ab sofort Besucher ein. In Gruppen von zehn Personen werden sie vorerst an mehreren Terminen bis Jänner (siehe Ende des Textes) durchs Haus geführt. Sieben Personen haben sich für den ersten Termin gemeldet, der KURIER hat die erste Führung begleitet.
Der erste Weg führt die Besucher direkt ins Herz des Jedmayer, ins Tageszentrum. Dort können Suchtkranke von 9.30 Uhr bis 17.30 Uhr ihre Zeit verbringen. Butterbrote und Äpfel gibt's gratis, warmes Essen muss bezahlt werden. "Dabei geht's auch darum, den Dingen einen Wert zu geben", sagt der Chef. 250 Menschen kommen im Durchschnitt pro Tag in den Jedmayer. Für viele Suchtkranke ist es der einzige Ort, an dem sie sich tagsüber aufhalten können, ohne beurteilt zu werden. "Sie müssen wissen", beginnt Reithofer seine Ausführung: "Viele Suchtkranke sind auch von Obdachlosigkeit betroffen. Und wenn Sie sich als Suchtkranker im öffentlichen Raum aufhalten, dann treten ihnen die meisten Menschen auf drei Arten gegenüber: Die einen sagen: 'Ma, so ein armer Mensch.' Die zweiten denken: 'Nur nicht ankommen.' Und die dritten denken: 'Kann man den wegmachen?' Diese Räume sind also dazu da, dass sich die Menschen zurückziehen können."
Die Besucher erfahren, wie "der klassische Weg ins Suchtproblem" aussieht: Traumata aus der Kindheit und Missbrauch. "80 Prozent unserer weiblichen Besucher haben Gewalt erfahren, 20 Prozent der Männer." Im Jedmayer sollen sie stabilisiert werden. Die Aufregung, die die Bürgerinitiative mit Unterstützung von FPÖ und ÖVP erzeugte - vor allem über die Boulevardmedien - habe die Klienten verängstigt. Sie fürchten, dass der Jedmayer zusperrt. "Auch Suchtkranke lesen Zeitung", sagt Reithofer.
Angeschlossen an das Tageszentrum ist der Spritzentausch - die nächste Station der Besuchergruppe. "Die Spritze ist das ur-typische Angstbild, wie der Reißzahn des Tigers", findet der Chef der Suchthilfe. Sieben Tage die Woche, 24 Stunden lang ist der Spritzentausch im Jedmayer geöffnet. 10.000 Spritzen pro Tag werden dort kostenlos getauscht - bei 600 Kontakten mit Klienten pro Tag. Wien versorgt auch Niederösterreich und das Burgenland mit. "Warum der Spritzentausch wichtig?", fragt der Chef in die Runde. Und noch bevor die Besucher antworten können, erklärt er: "Erstens, um Infektionskrankheiten zu verhindern. Wenn beispielsweise die HIV-Raten hoch sind, ist das auch für die restliche Bevölkerung ein Problem. Und zweitens, weil die Menschen, die so Drogen konsumieren, an die Gesundheitsversorgung angeschlossen sind."
"Aber wie funktioniert so ein Spritzentausch jetzt tatsächlich?", will ein Besucher wissen - und Reithofer erklärt. Gibt eine suchtkranke Person eine gebrauchte Spritze im Jedmayer ab (über eine Fallklappe wandert diese direkt in einen Nadelentsorgungskübel), bekommt sie ein sauberes Set zurück: Spritzenkolben gibt es in vier verschiedenen Größen, dazu einen sterilen Löffel (für das Kochen von Heroin), steriles Wasser und Ascorbinsäuere (Zitronensäure, Anm.) für das Auflösen von Heroin auf dem Löffel.
Vom Spritzentausch wandert die Gruppe nach oben, in den sogenannten Hygienetrakt.
Dort können obdachlose Suchtkranke ihre Wäsche waschen oder duschen gehen. "Das ist besonders wichtig", sagt Reithofer. "Viele unserer Klienten duschen dann 20 Minuten, weil die Dusche der einzige Ort für sie ist, an dem sie Privatsphäre haben." Hygiene für obdachlose Suchtkanke heißt: Rückzug, Wärme, Entspannung.
Vom Hygienetrakt geht die Runde weiter in die Ambulanz der Suchthilfe. Anonym und kostenlos können Suchtkranke hier zur Gynäkologin, zum Praktischen Arzt, zum Kardiologen oder zum Lungenfacharzt gehen. Der nächste Weg führt die sieben Besucher in die sogenannte Substitutionsabgabe, wo Suchtkranke unter ärztlicher Aufsicht ihre Drogenersatzmittel abholen und einnehmen können. Die High-Tech-Ausstattung überrascht: Mit Feinwaage und elektronischer Gesichtserkennung funktioniert das.
Aber was hat eigentlich die Besucher dazu gebracht, an einer Führung im Jedmayer teilzunehmen? Eine junge Frau erzählt von ihrer Mutter, die suchtkrank war. Eine andere, dass es in ihrem Freundeskreis Probleme mit Drogen gibt. Eine Besucherin, die aus der Gegend ist, hat schon vom "Schwachsinn" der Bürgerinitiative gehört. "Aber die nehme ich nicht ernst. Die Suchthilfe soll nicht abgeschafft, sondern gefördert werden", sagt sie. Von der Bürgerinitiative hat bisher niemand das Angebot angenommen. "Dafür haben wir's zwar gemacht. Es hat sich bis dato aber niemand bei uns angemeldet", sagt der Suchthilfe-Chef.
Suchthilfe Wien
Der Jedmayer, das Tageszentrum der Suchthilfe Wien am Gumpendorfer Gürtel ist täglich von 9.30 bis 17.30 Uhr geöffnet. Auch das Ambulatorium befindet sich dort.
In der Notschlafstelle (täglich von 18 bis 8 Uhr) können 26 Personen nächtigen. Frauen werden aufgrund ihrer erhöhten Gefährdungslage bevorzugt aufgenommen.
Termine für Führungen: 20.11., 26.11., 10.12., 17.12. um 18 Uhr, 15.1. um 10 Uhr, 22.1. um 18 Uhr. Anmeldung unter 01/4000-53612 oder via eMail: office@suchthilfe.at