Chronik/Wien

Im Visier des Attentäters: Die bangen Minuten der Zeugen

"Ich bin vor dem Lokal gestanden und habe zuerst geglaubt, dass jemand mit Böllern um sich schießt. Aber nach ein paar Knallern wussten wir, dass es Schüsse sind. Gleich darauf ist der Attentäter um die Ecke gekommen und hat auf mich und meinen Kollegen geschossen", erzählt Alexander T. Der Kellner hatte am Montagabend Dienst.

Er arbeitet in Richy's Rockbar in der Judengasse. Gleich daneben am Friedmannplatz liegen jetzt Kränze und Kerzen, die an die Schreckenstat erinnern. Vier Menschen verloren das Leben, 23 wurden schwer verletzt.

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"In dem Moment dache ich nur: Lauf!"

Als Alexander den Attentäter sah, hielt dieser die Waffe auf ihn gerichtet und drückte ab. Er traf aber nicht: "Es war Glück, dass er nicht getroffen hat. In dem Moment dachte ich nur: ,Lauf'!"

Sein Kollege sei in das Lokal hinein gelaufen. Doch Alexander T. bedachte, dass ein Raum ohne Hinterausgang auch zu einer tödlichen Fallen werden könnte. "Wäre der Attentäter in die Lokale hinein gegangen, dann hätten wir alle keine Chance gehabt", sagt er. 

Alexander hat schnell verstanden, in welch schrecklicher Situation er sich befand. Viele hätten nicht so schnell reagieren können. "Als ich weggelaufen bin, sind viele Leute weniger als 100 Meter vom Angreifer entfernt gestanden und haben munter Videos gemacht." Der Kellner flüchtete zu Fuß in den 2. Bezirk.

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Nur wenige Meter weiter unten, an der Ecke Schwedenplatz/ Rotenturmstraße, saß Pharmaziestudent Zabi S.

Er wollte noch einmal vor dem Lockdown seine Freunde sehen, wie so viele an dem lauen Montagabend. Um Mitternacht sollte der Lockdown als Maßnahme zur Eindämmung der Corona-Pandemie starten.

Das Recht auf kostenlose psychologische Hilfe

"Ich traf meine Freunde in der Gelateria Castelletto in dem verglasten Eckcafé am Schwedenplatz, gegenüber des McDonalds", erzählt der junge Mann. Am Mittwoch erzählte er seine Geschichte auch der Polizei. Von seiner Arbeit in der Apotheke in der Innenstadt ist er vorerst für drei Wochen befreit. Er hat das Recht, kostenlose psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. 

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Die Schreie der Erwachsenen und der Kinder

"Schlafen kann ich derzeit kaum, ich sehe die Bilder immer wieder und höre die Schreie", erzählt er. "Wir waren mittendrin und wir haben nicht verstanden, was da eigentlich passiert". Die Geräusche der Schüsse seien nicht so schlimm gewesen, wie das Geschrei der Erwachsenen und der Kinder. Die Menschen hätten alles liegen gelassen. Die, die konnten, seien geflüchtet.

Gegen 20 Uhr habe es begonnen: "Eine Frau rannte von der Rotenturmstraße Richtung Schwedenplatz, ich dachte es sei ein Autounfall", beschreibt der Zeuge. Während er Richtung Schanigarten geht, kommt ein Kellner der Gelateria, der etwas im gegenüberliegenden Hard Rock Café holen musste. Er schreit: "Da kommen vier bewaffnete Männer runter!" 

Schüsse gegen das Glas: Splitter auf der Brust

Zabi S. steht zu dem Zeitpunkt an der Schiebetür am Eingang. Er hört Schüsse und erkennt, dass es sich nicht um eine Pistole handeln kann. Es muss ein Sturmgewehr sein.

"Ich schaute auf meine Brust und da waren Glassplitter, von dem Schuss, der über meinen Kopf das Glas getroffen hatte", erzählt er. Dann hat er überlegt: "Gehe ich hinaus oder hinein?"

Die Menschen im Gastgarten waren schon aufgesprungen. Man sah sogar Gläser zerspringen, die von Kugeln getroffen wurden.  "Es ging so schnell, die Schüsse kamen von allen Seiten", erzählt der junge Mann, sichtlich mitgenommen. "Ich ging in Deckung am Boden und riss auch meine Bekannte mit runter", erzählt er.

Manche hätten - während sie sich am Boden versteckten - die Polizei angerufen. Die Menschen hätten geschrien - um ihr Leben. Manche versteckten sich weiter hinten im Lokal, andere im Keller. 

Die Polizei war schnell da. Wer ab diesem Zeitpunkt geschossen hat, war für die Zeugen nicht mehr klar erkennbar. Die Polizei oder der Täter? Es war auch nicht mehr klar, aus welchen Richtungen die Schüsse kamen. "Sie kamen von überall", erzählt Zabi S. 

Die Schießerei ging weiter, gegen 20.15 Uhr war er selbst im Keller des Lokals. Als die Polizei und die Spezialkräfte das verglaste Ecklokal zum "Headquarter" umfunktionierten, fühlte er sich sicher.

Bis in die Morgenstunden verharrte er im Lokal. Die Polizei war weiterhin auf der Suche nach Mittätern. Dienstagfrüh hieß es dann von der Polizei, dass es nur einen Täter gebe. Zabi S. verwundert das.

Leichenwägen parkten vor dem Café

"Am Schlimmsten waren die Leichenwägen, die dann vor unserem Eiscafé parkten und die Leichen abtransportieren", erzählt er. Die Bilder werde er nicht so leicht aus dem Kopf bekommen. "Meine Eltern sind aus dem Krieg geflüchtet, ich habe keine Ahnung, was sie mitmachen mussten", erzählt Zabi. Er war ein Baby, als seine Eltern mit ihm vor dem Krieg in Afghanistan flüchteten.

Im Lokal sei jedenfalls viel zurückgelassen worden: Kinderwägen, Schnuller, Jacken, Geldbörsen. "Viele wollen wohl nicht an diesen Ort zurück kehren", sagt Zabi S. Ende der Woche können all jene, die Montagnacht im Eissalon Casteletto verbringen mussten, ihre Habseligkeiten abholen: "Es wird alles da sein."

Zabi S. hofft nun, dass Muslime in Wien nicht mit Terroristen gleichgesetzt werden. Er liebt die multikulturelle Gesellschaft, die Wien zu dem mache, was sie ist. "Das darf nicht zerstört werden", sagt er.