Dorfpolizisten für die große Stadt
Von Nihad Amara
Mit einem ruckartigen Handgriff schnallt sich Polizistin Anita Schlögl ihren Gürtel samt Dienstwaffe um und marschiert los. Was im Stadtpolizeikommando Wien-Josefstadt in der Fuhrmannsgasse so spektakulär beginnt, endet einige Gehminuten später in einer Trafik mit einem herzlichen Plausch. Inhaberin Elisabeth Froschauer begrüßt die 23-jährige Polizistin so wie eine gute Bekannte. „Wie geht’s?“, erkundigt sich Schlögl. Man spürt sofort – die beiden kennen einander.
Für Schlögl gehört das zur Arbeit. „Grätzl-Betreuung“ heißt der Job polizeiintern. Jeder Beamte der Inspektion hat seinen Rayon, seine Häuserblocks, seine Geschäftsleute, seine Bewohner.
Alle paar Jahre wird der Ruf nach mehr „Grätzl-Polizisten“ laut. Jetzt feiert das viel diskutierte Konzept ein Revival: Das Innenministerin plant neben Posten-Zusammenlegungen auch, mehr „Dorf-Polizisten“ auf die Straße zu schicken. Hunderttausende Dienststunden werden durch die Reform außerhalb von Wien frei. Wie viele es in der Wien sein werden, ist noch Verhandlungssache.
Diese Polizisten sollen Sicherheit vermitteln. Nicht nur durch Verbrecherjagden, sondern viel einfacher – durch Gespräche mit Bürgern über ihre Sorgen. Das soll das viel zitierte „subjektive Sicherheitsgefühl“ in der Bevölkerung heben. „Sicherheit ist auch eine Kommunikationsleistung“, erklärt Ministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck.
„Gefühlte“ Kriminalität
Mit Fakten hat das Unsicherheitsgefühl oft wenig zu tun. Es ist so ähnlich wie in der Meteorologie: Die gemessene Temperatur entspricht oft nicht der gefühlten. Gemessen an den Zahlen des Innenministeriums ist Österreich im vergangenen Jahrzehnt sicherer geworden. Im ersten Halbjahr 2013 wurden mit 265.533 Taten um rund 50.000 weniger angezeigt als noch vor neun Jahren. Ein Blick in die Leserbrief-Seiten eines Kleinformats reichen aus, um einen anderen Befund zu stellen. Anlässlich einer Kampagne zum Thema „Sicherheit“ wurde von Briefen Hunderter besorgter Bürger berichtet.
Hier schreitet der „Grätzl-Polizist“ ein. „Er macht mehr, als nur Sicherheit durch Intervention herzustellen“, erklärt Katharina Miko, Soziologin, die mit Kollegen zum Thema „subjektive Sicherheit“ geforscht hat (siehe Interview). Der Polizist sei ein Kommunikator, jemand, den die Menschen kennen.
Anita Schlögl erzählt von ihrem vergangenen Besuch. Ein Nachbarschaftsstreit, ausgelöst durch einen mutmaßlich illegal abgestellten Blumentrog. Ihr Job dabei: „Ich höre mir die Probleme an.“
Anonyme Stadt
Derzeit passiert das selten. Im Dienstbetrieb hat die Beamtin zu wenig Zeit. Sechs Stunden dauert der Streifendienst. Pro Woche bleiben ein paar Stunden, um ihr Revier zu „pflegen“. Die Zeit geht für Kennzeichen-Abnahmen und Recherchen drauf. Die Uniformierte marschiert von der Trafik eine Hausfront entlang, hält vor einer Gegensprechanlage. So herzlich wie die Trafikantin würde sie hier niemand empfangen. Der Idee, wonach jeder seinen Beamten auch namentlich kennt, stößt in der Großstadt an ihre Grenzen. Türschilder sind nicht beschriftet, die Bewohner kennen sich oft untereinander nicht. Ein Dorfpolizist für die Stadt? „In Wien“, sagt sie, „funktioniert das anders als am Land.“ Es gibt keine Vereine, keine Stammtische, dafür gelebte Anonymität.
Den Sonderfall „Großstadt“ kennt man im Innenministerium. Man hat das Konzept an urbane Verhältnisse angepasst.
„Unaufgeregte Polizeipräsenz“ heißt das Motto. Beamte sollen sichtbar und ansprechbar sein, erklärt Grundböck.
Das Vorhaben deckt sich mit einer Erkenntnis aus Mikos Arbeit: „Grundsätzlich wird Polizeipräsenz positiv bewertet.“ Allerdings nur so lange sie nicht überhand nimmt. Tritt die Polizei massiv auf, steige die Unsicherheit. Bis die Reform im Dienstalltag von Anita Schlögl ankommt, wird sie noch viele Gespräche führen. „Die Menschen“, sagt sie, „freuen sich, wenn man mit ihnen redet.“
KURIER: Mehr Polizisten sollen auf die Straße. Bringt das Sicherheit?
Katharina Miko: Die Wirkung der Polizeipräsenz auf subjektive Sicherheit ist gut erforscht. Eigentlich wird sie positiv bewertet. Erst wenn die Anzahl an Beamten eine kritische Masse übersteigt, kann dies verunsichern.
Was beeinflusst das subjektive Sicherheitsgefühl?
Wir haben mehrere Faktoren. Einer davon ist das Image eines Platzes. Wenn jemand am Karlsplatz gerempelt wird, interpretiert er das anders als an einen Platz mit einem besseren Ruf.
Ist es möglich, vollkommene Sicherheit herzustellen?
Es ist schwierig, einen Platz subjektiv sicher zu machen. Es geht immer um eine Frage: Um wessen Sicherheit handelt es sich? Wessen Sicherheit steht im Zentrum der Forschung?
Warum ist der Sicherheitsdiskurs so stark ausgeufert?
Seit dem 11. September (Anm. Anschläge auf das World Trade Center) wird das medial hochgekocht. Bessere Technologien fördern den Diskurs – leider oft in Richtung Verunsicherung. Dies fördert weitere Technologien. Das ist ein Kreislauf. Außerdem glaube ich, dass in prekären, wirtschaftlich unsicheren Zeiten vermehrt auf den Unsicherheitsdiskurs gesetzt wird.