Rechtsextremer Angriff in Halle: AfD sei "geistiger Brandstifter"
- Zwei Menschen starben am Mittwoch durch Schüsse in der deutschen Stadt Halle/Saale. Ein Täter versuchte vergeblich eine Synagoge zu stürmen.
- Festgenommen wurde ein 27-jähriger Deutscher. Seine Wohnung wurde durchsucht und Beweismittel sichergestellt.
- Es wird von einem rechtsextremistischen Motiv ausgegangen.
- Der Täter führte eine Helmkamera mit sich und streamte die Tat live im Internet. Auch ein Manifest soll es geben.
- Sowohl der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Halle, als auch der Präsident des Zentralrats der Juden kritisieren das Vorgehen der Polizei.
- Bayerns Innenminister hält die AfD für die Tat mitverantwortlich.
- Auch in Wien wurden die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen verschärft. Ebenso findet das EM-Qualifikationsspiel Österreich-Israel am Donnerstag unter erhöhten Schutzmaßnahmen statt.
- Die Opfer sind mittlerweile identifiziert. Es handelt sich um eine 40 Jahre alte Frau aus Halle sowie einen 20 Jahre alten Mann aus Merseburg.
- Bei den zwei Verletzten handelt es sich um ein Ehepaar, die im 15 Kilometer entfernten Landsberg ein Geschäft betreiben.
Ein schwerbewaffneter Attentäter wollte am Mittwoch gegen Mittag eine Synagoge in Halle/Salle stürmen. Mehr als 50 Menschen hielten sich zu dem Zeitpunkt in dem Gotteshaus auf und feierten das wichtigste jüdische Fest, Jom Kippur. Nachdem der Anschlagsversuch scheiterte, soll der 27-jährige Deutsche vor der Synagoge und danach in einem nahen Döner-Imbiss zwei Menschen erschossen und mindestens zwei weitere verletzt haben. B. soll die Tat gefilmt und per Helmkamera live ins Internet übertragen haben, bevor er vom Tatort floh.
Der mutmaßliche Rechtsextremist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt wurde festgenommen. Die Wohnung des 27-Jährigen sei durchsucht und Beweismittel sichergestellt worden, sagte ein Sprecher. Es werde geprüft, ob es Mittäter gegeben habe. Noch am Donnerstag will die deutsche Bundesanwaltschaft einen Haftbefehl beantragen.
Die Identität der beiden Opfer ist nach wie vor ungeklärt.
Innenminister Seehofer will am Donnerstagnachmittag auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über neue Erkenntnisse informieren.
Polizei "zu spät" bei Synagoge
Schuster übte am Mittwoch scharfe Kritik an dem fehlenden Polizeischutz vor der Synagoge. Dass die Synagoge "an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös." "Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt."
"Wie durch ein Wunder ist nicht noch mehr Unheil geschehen", fügte Schuster hinzu. Die Tat am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur "hat unsere Gemeinschaft auf das Tiefste in Sorge versetzt und verängstigt".
"Leider ist die Zeit gekommen, in der alle jüdischen Gebetshäuser und andere jüdische Einrichtungen eine erhöhte Sicherheit durch staatliche Sicherheitskräfte benötigen", so der Ronald Lauder, Vorsitzender des Jüdischen Weltkongresses am Mittwoch. Es seien "Taten statt Worte" nötig. Lauder rief außerdem dazu auf, "eine einheitliche Front gegen neonazistische und extremistische Gruppen" zu bilden. Den tödlichen Angriff in Halle nannte er "entsetzlich".
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde der ostdeutschen Stadt Halle, Max Privorozki, hat der Polizei eine zu langsame Reaktion beim versuchten Angriff auf die Synagoge vorgeworfen. "Die waren zu spät vor Ort", sagte Privorozki.
Mindestens 10 Minuten hätten sie gebraucht, als er angerufen und gesagt habe: "bewaffneter Anschlag gegen die Synagoge". Privorozki machte deutlich, dass mehrfach auch im Bundesland Sachsen-Anhalt der Wunsch nach Polizeischutz für Synagogen geäußert worden sei - "genauso wie in großen Städten wie Berlin, München Frankfurt".
2.200 Menschen sahen Bekennervideo
Nach dem Anschlag fanden Experten des International Centre for the Study of Radicalization (ICSR) mit Sitz in London im Internet ein Manifest, in dem die Anschlagpläne bis ins Detail beschrieben werden. So stimmen die im dem PDF-Dokuement abgebildeten Waffen mit jenen selbstgebauten Schusswaffen überein, die der Täter am Mittwoch verwendet hat. Das Manifest soll nach ersten Untersuchungen authentisch sein.
Der Schütze filmte sich bei seiner Tat selbst.
Im Video ist zu sehen, wie offensichtlich in der Innenstadt von Halle geschossen wird. Unter anderem zeigt das Video, wie in einem Döner-Imbiss mehrfach auf einen Mann geschossen wird, der hinter einem Kühlschrank liegt. Die Aufnahmen stammen wohl von einer an einem Helm befestigten Kamera. Zu Beginn des Videos ist zu sehen, wie der mutmaßliche Täter in Kampfanzug mit Waffen in einem Auto sitzt. Der Mann gibt in schlechtem Englisch extrem antisemitische Äußerungen von sich.
Die Streaming-Videoportal Twitch teilte in der Nacht zu Donnerstag weiter via Twitter mit, dass das "entsetzliche Video" 35 Minuten auch live vom Konto-Eigentümer auf der Plattform gestreamt und in dieser Zeit von fünf Menschen gesehen worden sei.
In dem Tatvideo ist mitunter zu sehen, wie in mindestens zwei Fällen Ladehemmungen das Leben von Menschen zu retten scheinen. Der Täter setzte eine vermutlich im Selbstbau hergestellte Langwaffe, eine Pistole und Sprengsätze ein.
Antisemitischer Hintergrund
Nach Einschätzung von Extremismusforscher Matthias Quent wollte der Täter offenkundig eine international verbreitete, rechte Internet-Subkultur erreichen. "Er spricht Englisch, und er greift Verschwörungstheorien auf, zum Beispiel über die angeblich zerstörerische Macht des Judentums. Er äußert sich auch abwertend über Feminismus", sagte Quent. Das seien Motive der weltweiten populistischen und radikalen Rechten. "Das Video folgt der Ästhetik eines Videospiels, auch durch die Ego-Shooter-Perspektive", sagte Quent.
Innenminister Seehofer hatte schon am Mittwochabend gesagt, der Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen rasch an sich gezogen hatte, habe "ausreichend Anhaltspunkte für einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund". Seehofer sprach von einem antisemitischen Motiv.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hält nach dem tödlichen Anschlag auch Politiker der rechtspopulistischen AfD für mitverantwortlich. "Das eine sind diese schrecklichen Gewalttäter, vor denen wir uns schützen müssen - das andere sind auch die geistigen Brandstifter", sagte Herrmann am Donnerstag im Bayerischen Rundfunk.
"Da sind in letzter Zeit auch einige Vertreter der AfD in unverschämter Weise aufgefallen", fügte er hinzu. Namentlich nannte Herrmann den Thüringer AfD-Rechtsaußenpolitiker Björn Höcke. "Höcke ist einer der geistigen Brandstifter, wenn es darum geht wieder mehr Antisemitismus in unserem Land zu verbreiten", sagte er und ergänzte: "Darüber müssen wir jetzt die politische Auseinandersetzung konsequent führen."
Trauer und Betroffenheit
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) übermittelte den Angehörigen der Opfer ihr tiefes Beileid. Die Solidarität gelte allen Jüdinnen und Juden am Feiertag Jom Kippur, schrieb Regierungssprecher Steffen Seibert auf Twitter. Am Abend nahm Merkel an einer Solidaritätsveranstaltung an der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin teil.
Auch in anderen deutschen Städten versammelten sich Menschen in der Nähe von Synagogen und gedachten der Toten. In Halle legten Menschen am Marktplatz Blumen und Kerzen nieder.
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, zeigt sich ob des Anschlags bestürzt. "Ich bin entsetzt und fassungslos angesichts dieser Gräueltat." Sein Mitgefühl sei bei den Familien der Opfer. "Und ich denke an unsere jüdischen Brüder und Schwestern, die heute ihr höchstes Fest, das Versöhnungsfest, feiern. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie in unserem Land ihren Glauben in Angst und Unsicherheit leben müssen. Als Christen wie als Deutsche sind wir aufgerufen, uns dem entgegenzustellen. Denn Antisemitismus ist Gotteslästerung."
Der deutsche Kardinal Reinhard Marx hat sich nach dem Angriff in der ostdeutschen Halle an der Saale mit zwei Toten und mehreren Verletzten betroffen gezeigt. "Ich bin entsetzt und erschüttert über den feigen Anschlag von Halle", sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz am Mittwoch laut Mitteilung. "Unser Mitgefühl gilt den Todesopfern, ihren Angehörigen und den Verletzten."
Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen ist entsetzt von den tödlichen Schüssen in der ostdeutschen Stadt Halle an der Saale. "Zutiefst geschockt von dem tragischen Vorfall in Halle", erklärte die Regierungschefin am Mittwochabend auf Twitter. In Gedanken sei sie bei den Angehörigen der Opfer, denen ihr Mitgefühl gelte.
Juncker "zutiefst schockiert"
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat einen eindringlichen Appell an die europäische Öffentlichkeit gerichtet. "Der zunehmende Antisemitismus muss alle Europäerinnen und Europäer zum Handeln aufrufen", schrieb er am Mittwochabend über den Kurznachrichtendienst Twitter mit.
Er sei "zutiefst schockiert" über die Nachricht von den mörderischen Anschlägen. "Meine Gedanken und Gebete sind bei den Familien und Freunden der Opfer und der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und ganz Europa, die in den letzten Jahren immer wieder Ziel antisemitischer Angriffe wurde", schrieb der Luxemburger weiter. "Wir stehen an diesem Tag in Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft."
"Das ist wahnsinnig"
Der israelische Nazi-Jäger Efraim Zuroff hat in einer Reaktion umfassendere Bildung zu Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gefordert. "Es gibt die Bildung, aber nicht überall in gleichem Maße und tief genug, so wie es sein müsste", sagte Zuroff am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur in Tel Aviv.
"Es gibt Unterschiede zwischen Ost und West, und es hängt von jedem einzelnen Lehrer und Schulleiter ab." Bildung sei die langfristige Lösung im Kampf gegen Antisemitismus. "Die kurzfristigen Lösungen sind Sicherheit und soziale Netzwerke." Weltweit würden Plattformen Posts nicht genug kontrollieren. Deswegen habe der mutmaßliche Angreifer von Halle seine Taten komplett filmen und im Netz zeigen können. "Das ist absolut wahnsinnig", sagte Zuroff. In dem Moment, in dem ein solches Video aufkomme, müssten die Netzwerke sofort reagieren.
In Bezug auf die Sicherheit jüdischer Einrichtungen sagte Zuroff: "Man kann Deutschland keine Vorwürfe machen, dass es keinen Schutz bietet. Jede einzelne Synagoge in Deutschland hat Polizeischutz."
Erhöhter Schutz in Wien
Auch in Wien wurden die Sicherheitsvorkehrungen vor jüdischen Einrichtungen verschärft. Dazu gehören neben den Synagogen etwa auch das Jüdische Museum oder die israelische Botschaft. Bereits vor dem Anschlag hat es aufgrund der jüdischen Feiertage verstärkte Überwachungsmaßnahmen gegeben, sagte Polizeisprecher Patrick Maierhofer.