Experte zu Lübcke-Mord: "Das sind schläferähnliche Akteure"
Ihre Anschläge richteten sich gegen Migranten, Geflüchtete oder Linke – seit 1990 zählen die Behörden 85 Tote durch Rechtsextreme, Recherchen von Zeit, Tagesspiegel und Frankfurter Rundschau belegen, dass es 169 sind. Mit Walter Lübcke (CDU) aus Kassel starb seit 1945 erstmals ein amtierender Politiker – durch einen mutmaßlichen Täter, der in der rechten Szene aktiv war. Für den Soziologen Matthias Quent ist dies eine „neue Dimension“ von Rechtsterrorismus. Denn der Staat gerät ins Blickfeld, „eine besonders prekäre Situation“, sagt der Rechtsextremismus-Forscher und Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena im Gespräch mit dem KURIER.
Er beobachtet eine Radikalisierung der bürgerlichen Rechten, die sich mit dem Erstarken der AfD niederschlägt und eine Sprechweise verbreitet, die bisher im Neonazi-Milieu gängig war. Das Potenzial, das Menschen diesen Worten Taten folgen lassen und sich durch Wahlerfolge legitimiert fühlen, gewalttätig zu werden, hält Quent für hoch – und die Gefahr sei größer als 2011.
Damals wurde der NSU-Komplex offenbart: Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verübte zehn Morde und drei Anschläge. Wobei bis heute unklar ist, wer zu den Helfern gehörte, die ihnen falsche Pässe organisierten oder Wohnungen anmieteten. „Dieses Netzwerk wurde thematisiert, aber nie zur Verantwortung gezogen“, kritisiert Quent. Zu einer militanten Organisation (Combat 18), deren Mitglieder den NSU unterstützten, soll auch der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke, Stephan E., Kontakt gehabt haben. Die Gruppe ist nicht verboten, was Quent als problematisch sieht. Gleichzeitig weist er daraufhin, dass Neonazis dadurch nicht ihre Ideologie verlieren, „sie suchen nach neuen Wegen“, so Quent. Wie etwa in den 1990ern als nach der Gewaltreihe in Rostock-Lichtenhagen 15 deutsche rechtsextreme Vereine verboten wurden. „Die Szene hat sich dezentralisiert und konspirativ organisiert.“
Generation NSU
Auch Stephan E., war damals aktiv und soll 1993 einen Anschlag auf ein Asylwerberheim in Hessen verübt haben. Es folgten weitere Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund. Vor zehn Jahren wurde er zuletzt strafauffällig und verschwand danach vom Radar der Ermittler. In seinem Kopf dürfte sich aber wenig verändert haben: Er spendete 2016 an die AfD und postete unter einem Pseudonym Hasskommentare, wie „entweder diese Regierung dankt in kürze ab oder es wird Tote geben“. Gleichzeitig führte er ein Leben als Familienvater, den Nachbarn als unauffällig bezeichneten.
„Im Grunde sind es schläferähnliche Akteure, die eskalieren können“, sagt Quent. So geschehen in Hamburg, als ein 52-Jähriger auf einem S-Bahnhof eine Bombe zündete. Oder in Köln, wo Oberbürgermeisterin Henriette Reker schwer verletzt wurde – „das waren Neonazis, die in den 90er aktiv waren“.
Neben der alten kommt zusätzlich Gefahr aus dem Spektrum der Neuen Rechten, die sich im Umfeld der Identitären bewegen. Sie radikalisieren sich wie der Attentäter von Christchurch über soziale Medien und schlagen unberechenbar zu, sagt Quent. Die Überwachung des Internets wird wenig bringen, wichtiger sei, dass die Behörden neben vermeintlichen Helfern auch die ideologischen Unterstützer im Blick haben.