Chronik/Österreich

Verschwörungstheoretiker: "Sie glauben, der Staat will ihnen nur Böses"

Sie glauben nicht mehr an die Medizin, sehen hinter der Pandemie einen großen Plan und gefährden mit ihren Ansichten sich selbst und ihr Umfeld. Verschwörungstheoretiker haben in der Corona-Krise regen Zulauf. Ulrike Schiesser von der Bundesstelle für Sektenfragen berät Angehörige und erklärt im Interview, wie diese Menschen ticken.

KURIER: Welchen Anteil haben Verschwörungsmythen am schleppenden Impffortschritt?

Schiesser: Wenn jemand an Verschwörungsmythen glaubt, ist er meist auch gegen das Impfen, zumindest bei Corona. Aber natürlich ist nicht jeder Impfverweigerer automatisch Verschwörungstheoretiker.

Welche Motive gibt es noch?

Die Impfung wurde schnell entwickelt, und wir sind im wissenschaftlichen Diskurs in der ersten Reihe gesessen. Das hat viele verunsichert. Sie überschätzen die Nebenwirkungen und unterschätzen die Gefahr der Krankheit.

Was braucht es, um sie zu überzeugen?

Laut WHO gibt es drei Faktoren, die in der Aufklärung in den Vordergrund gestellt werden müssen: die Gefährlichkeit der Krankheit, die Sicherheit der Impfung und das niederschwellige Angebot. 

Welchen Verschwörungsmythos hören Sie derzeit am häufigsten?

Das sogenannte Impfstoff-Shedding. Geimpfte seien für Nicht-Geimpfte gefährlich, weil sie Proteine absondern, die krank machen. Das geht so weit, dass sie alles desinfizieren, was ein Geimpfter angegriffen hat und Masken tragen, um sich zu schützen.

Sprechen wir hier von ein paar wenigen Anhängern solcher Mythen oder ist es eine kritische Anzahl?

Zahlen dazu haben wir keine. Wir sehen aber durch unsere Beratungsgespräche, dass Verschwörungsmythen in den vergangenen Jahren zugenommen haben – ob zum Thema Gentechnik, 5G oder zum Glauben an eine flache Erde. Wir sind mit vielen extremen Fällen konfrontiert. Und die Angehörigen, die sich ja meistens bei uns melden, sind fassungslos.

Hat die Pandemie diese Entwicklung befeuert?

Antimedizinische Verschwörungstheorien sind schon länger auf dem Vormarsch. Sie behaupten, dass medizinische Behandlungen nur den Pharmafirmen dienen und alle Ärzte unter einer Decke stecken. Was jetzt passiert, ist, dass die Verschwörungsmaschinerie Corona in bestehende Theorien einbaut. Etwa, dass Corona nur die Auswirkung von 5G sei. Es ist aber nicht jeder Verschwörungstheoretiker, der einmal auf einer Corona-Demo war.

Befragungen im Rahmen des Austria Corona Panel Projects der Universität Wien zeigen, dass fünf bis 15 Prozent der Bevölkerung an Corona-Verschwörungsmythen glauben.

4 Prozent sind sich zum Beispiel sicher, dass Bill Gates die Menschen zwangsimpfen will, um Geld zu verdienen. Weitere acht Prozent halten diese Verschwörungserzählung für „eher sicher“. 

Wieso befasst sich die Bundesstelle für Sektenfragen eigentlich mit Verschwörungsmythen rund um Corona?

Einerseits haben einige Communities der Verschwörungstheoretiker interne Strukturen, die sektenartig wirken. Wie sie miteinander kommunizieren, wie sie sich organisieren. Andererseits werden Verschwörungserzählungen oft von autoritären, vereinnahmenden spirituellen Gemeinschaften genutzt, die sich über einen Außenfeind definieren. Je böser dieser ist, desto besser.

Sprechen Sie in Ihrem Bericht deshalb von einer „pseudoreligiösen Funktion“ der Verschwörungsmythen?

Sie geben Menschen Halt und eine Aufgabe, also ihre Botschaft wie ein Messias zu verbreiten. Anhänger solcher Theorien verwenden ein religiöses Vokabular. Da ist die Rede von Wahrheit und Erwachen. Es werden archaische Bilder wie Gut und Böse konstruiert. Und teils gibt es messianische Gestalten, wie Trump bei QAnon.

Also ist es eine Art von Glaubenssystem?

Ja. Deswegen ist es so schwer mit den Menschen zu sprechen, weil es um Glauben geht und nicht um Fakten. Das frustriert viele im Umfeld. 

Kann man sagen, welche Menschen solch einem Aberglauben verfallen?

Es betrifft zunehmend solche, von denen wir es nicht erwarten, wie Menschen aus der Mittelschicht und mit gutem Bildungsniveau. Sie wenden sich ganz bewusst unwissenschaftlichen, spirituellen Konzepten zu und schieben alles andere beiseite.

Wie kann man das psychologisch erklären?

Eine mögliche Erklärung ist, dass die Krise Angst und Kontrollverlust ausgelöst hat. Das ist leichter zu ertragen, wenn es eine einfache Erklärung und Schuldige dafür gibt. Die Welt der Verschwörungsmythen sagt, es gibt einen Plan dahinter. Sie haben den Eindruck zu recherchieren, es fällt ihnen aber nicht auf, dass sie sich nur innerhalb einer Blase bewegen. Hinzu kommt, dass viele Menschen während der Lockdowns viel Zeit hatten und in die Social-Media-Welt hineingekippt sind. 

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Sie haben bereits Anfang Juni mehr Schulabmeldungen befürchtet, weil sich Eltern wegen der Corona-Maßnahmen sorgen. Jetzt ist es eingetreten, die Zahl ist stark gestiegen. 

Das ist leider ein Trend. Manche, weil sie Maßnahmen wie Masken und Testen ablehnen. Andere, weil sie unzufrieden sind, wie es letztes Schuljahr abgelaufen ist. Sie fühlen sich alleingelassen und wollen es selbst in die Hand nehmen. 

Wie wirkt sich das auf die Kinder aus?

Die Stoffvermittlung ist weniger das Problem. Aber es kommt häufig zu einem Defizit beim sozialen Lernen. Es ist wichtig für Kinder, vielfältige soziale Kontakte zu haben, Konflikte in der Klasse auszutragen und mit anderen Denkweisen konfrontiert zu werden. 

Was kann man Angehörigen von Verschwörungsanhängern raten?

Zuerst muss man abklären, wie sehr jemand da reingekippt ist. Manchmal hat der Betroffene nur irgendwas gehört und gibt es unreflektiert wieder. Dann sollte man freundlich das persönliche Gespräch suchen und ihn mit Fakten konfrontieren. Ist er schon stark abgerutscht, helfen keine Fakten mehr. Da ist es besser, die Motive der Person zu eruieren. Und dann gibt es die absolute Grenze, wo keine Toleranz mehr angebracht ist. Wenn es menschenverachtend, boshaft oder antisemitisch wird. Verschwörungstheorien landen generell schnell beim Antisemitismus. Es ist wie ein Flussbett, in dem alle anderen Theorien früher oder später landen. Antisemitismus ist die Mutter der Verschwörungsmythen, ebenso der Antifeminismus – man denke an die Hexenverfolgungen. 

Gibt es auch welche, die von Verschwörungstheorien wieder wegkommen?

So etwas gibt es immer wieder. Zum Beispiel, weil der Partner Druck macht. Oder weil es unglaubwürdig wird, wenn seit Monaten das Ende der Welt prophezeit wird, aber noch immer nichts passiert ist. Manche merken auch, dass es ihnen nicht gut tut. Diese Welt ist sehr belastend. Sie glauben in einem Staat zu leben, der ihnen nur Böses will. Viele schämen sich danach, dass sie so hineingekippt sind, Familien und Freundschaften daran zerbrochen sind. 

Was kann die Gesellschaft dagegen tun?

Es gibt einen harten Kern, der größer und radikaler wird. Das sind Menschen, die zuletzt auch den Staat ablehnen. Da braucht es gesetzliche Rahmenbedingungen für den Schutz aller. Sie sehen sich in der Opferrolle, die ihnen dann das Recht gibt, aggressiv und immer gewaltbereiter aufzutreten. Sie erzeugen Feindbilder wie Journalisten, Pharmafirmen und Juden, gegen die sie zunächst mit verbaler Gewalt auftreten, die aber auch in Anschläge münden kann. Diese Entwicklung ist beunruhigend.