Chronik/Österreich

Junge Frau über Freundschaft mit Holocaust-Überlebendem

Aaron Kerns Kopf ist abwechselnd nach oben gestreckt und nach unten geneigt – mit seinem Smartphone versucht er, alles in Bildern festzuhalten. Gemeinsam mit seiner Frau Leslie steht Aaron (65) vor der Städtischen Musikschule in der d’Orsaygasse in Wien-Alsergrund. Sein Vater Arthur war in den 1930er-Jahren hier zur Schule gegangen, bevor er 1939 mit einem Kindertransport nach Frankreich gebracht und vor den Nazis gerettet wurde.

„Ich wollte Wien sehen“, sagt Aaron Kern. Das Haus sehen, in dem sein Vater aufgewachsen ist. Den Weg, den sein Vater täglich zur Schule gegangen ist. Die Wohnung, in der seine Mutter in ihrer Kindheit gelebt hatte. „Für mich schließt sich hier der Kreis“, sagt Aaron. „Ich wünschte, mein Vater wäre hier, um mir alles zu zeigen.“ Aber stattdessen übernimmt das Lilly Maier, 26 Jahre alt, Historikerin.

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Lilly Maier ist nicht zufällig Historikerin geworden. Und das ist bei dieser außergewöhnlichen Geschichte, die aus vielen wunderbaren Zufällen besteht, bemerkenswert.

Im September 2002, Lillys Mutter kochte gerade, läutete es an der Tür der Wohnung in der Gussenbauergasse.

Es begann im September

Vor der Tür stand ein Ehepaar und brachte ein besonderes Anliegen vor: Im März würden Freunde, ein gewisser Arthur Kern und seine Frau Trudie aus Amerika, nach Wien kommen. Sie fragten Lillys Mutter, ob es für die beiden möglich wäre, einen Blick in die Wohnung zu werfen. Denn Arthur Kern, geboren am 19. Oktober 1928 als Oswald Kernberg in Wien, lebte hier mit seiner Familie, bevor er mit einem Kindertransport nach Frankreich gebracht wurde. Seine Mutter Frieda, sein Vater Hermann und sein älterer Bruder Fritz wurden 1941 ins Ghetto für zwangsweise umgesiedelte Juden nach Opole, Polen deportiert. Arthur Kern war der einzige seiner Familie, der den Holocaust überlebte.

Lilly Maiers Mutter stimmte zu – aber das Treffen sollte mehr sein als ein möglicherweise emotionaler Kurzbesuch. Schließlich war einst eine jüdische Familie aus dieser Wohnung vertrieben worden. Lillys Mutter meldete ihre damals elfjährige Tochter für das Zeitgeschichte-Projekt „Letter to the Stars“ (siehe Kasten rechts) an. Lilly recherchierte die Lebensgeschichte von Frieda Kernberg. Bei seinem Besuch im März 2003 brachte Arthur Lilly Dokumente mit, die sein Schicksal nachzeichneten. „Er war nicht emotional, sondern glücklich. Er war die fröhlichste Person, die ich jemals in meinem Leben getroffen habe“, erzählt Lilly Maier heute.

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Im selben Jahr am 3. Mai erschien im KURIER eine Geschichte über Lilly und ihre Teilnahme am Projekt, worauf sich tags darauf die damals 83-jährige Wienerin Valerie Bartos meldete – mit einer sensationellen Nachricht: Sie hatte das Foto von Frieda Kernberg, das Lilly in die Kamera des KURIER-Fotografen gehalten hatte, erkannt und wollte mit Arthur Kern in Kontakt treten: 60 Jahre lang hatte Bartos Dokumente der Familie Kernberg versteckt und für den Fall einer Rückkehr aufbewahrt.

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Ein Zufall, wie so viele in dieser Geschichte: Denn Bartos hatte den KURIER an diesem Tag nur zufällig gelesen. Lilly hatte zuvor nur zufällig genau jenes Bild in die Kamera gehalten. Und zufällig hatten Arthur und sein Frau in einem Urlaub das österreichische Ehepaar kennen gelernt, das später an Lilly Maiers Tür läutete.

Schicksalshafte Begegnung

Mit 16 war Lilly erstmals zu Besuch bei Arthur in Kalifornien, viele weitere sollten folgen. Zwischen dem Mädchen und dem Holocaust-Überlebenden entstand eine Freundschaft. „Ohne Arthur hätte ich nicht Geschichte studiert“, sagt Maier. „Es war vorherbestimmt“.

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Maiers Buch, das am 12. November erscheint, wechselt zwischen historischen Abrissen und Arthurs Lebensgeschichte. „Viele Bücher über den Holocaust enden mit 1945. Aber das wollte ich nicht. Arthurs Geschichte endete nicht 1945.“ Er hat geheiratet, Maschinenbau studiert, wurde ein erfolgreicher Raketeningenieur, Vater, Großvater und Urgroßvater. „Er war stets positiv in seinem Leben.“

Im Herbst 2017 war Lilly zum vorerst letzten Mal in Kalifornien. Arthur Kern ist am 6. August 2015 im Alter von 87 Jahren gestorben.

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Info und Fakten

Das Buch

Am 7. November um 19 Uhr präsentiert Lilly Maier  „Arthur und Lilly“ im Thalia Landstraße. Die Autorin  wechselt im Buch zwischen der historischen und der biografischen Ebene, die die Lebensgeschichte von Arthur Kern behandelt.  

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„Letter to the Stars“

Das Zeitgeschichte-Projekt („Ein Brief zu den Sternen“) wurde 2003 von  den Journalisten Andreas Kuba und Josef Neumayr initiiert.  50.000  Schüler nahmen seither daran teil. Sie recherchierten die Lebensgeschichten von Opfern und Überlebenden des NS-Regimes.