Dschihad im Kinderzimmer
Ein Gymnasium in der Leopoldstadt, in einem an sich gutbürgerlichen Wohnviertel. Vor einigen Tagen wird bekannt, dass eine 14-jährige Schülerin in den Krieg ziehen wollte und auf ihrer Flucht von der Polizei aufgegriffen wurde.
Feuer am Dach! Schulpsychologen sollen nun versuchen, die Aufregung zu bannen. Und sie sollen der 14-Jährigen bei ihrer Rückkehr in die Schule zur Seite stehen.
Lange unterschätzt
Das Beispiel zeigt: Ein längst global geführter Krieg ist in Österreich angekommen. Und hat viele Erwachsene auf dem falschen Fuß erwischt. "Die Problematik wurde von Eltern und Lehrern lange unterschätzt", gibt Elisabeth Rosenberger offen zu. Die Vorsitzende des Verbands der Elternvereine an den Höheren und Mittleren Schulen in Wien, erzählt, dass sie noch zu Beginn des Schuljahrs keine Notwendigkeit für eine Veranstaltung zum Thema Deradikalisierung erkennen konnte. "Inzwischen wurden wir eines Besseren belehrt."
Allein 2014 sah sich der Wiener Stadtschulrat in rund 20 Fällen gezwungen, nach der Früherkennung radikaler Tendenzen den Landesverfassungsschutz einzuschalten. Etwa, weil Schüler mit einschlägigen Kontakten prahlten oder ankündigten, in den Krieg ziehen zu wollen. Rund 150 Jugendliche haben dies bis dato tatsächlich getan. Österreich ist damit im Vergleich zu anderen EU-Ländern deutlich exponiert.
Bis dato wurden vom Verfassungsschutz in Wien, Graz, Linz, Salzburg und Dornbirn knapp 2000 Sympathisanten ausgeforscht. Die meisten haben familiäre Wurzeln in Tschetschenien oder auf dem Balkan.
Krieg im Internet
Zum einen führen sie einen digitalen Werbefeldzug – längst auch in Österreichs Kinderzimmern. Mit professionell gestalteten Internetseiten, Propaganda-Videos in einer adäquaten Bildsprache und abscheulich brutalen Videospielen.
Zum anderen wurde rund um Moscheen und Vereine ein stabiles Netzwerk aufgebaut. Freunde werben dort Freunde an. Nik Nafs: "Versprochen wird den Pubertierenden, sie aus ihrer Ohnmacht zu befreien und zu Helden zu erheben." Erzählt wird, dass sie mitgestalten dürfen, in einer weltweit aktiven Bewegung. Die auch über Leben und Tod entscheidet.
Der Jugendanwalt weist auf die Brisanz hin: Einem Pubertierenden das Gehirn zu waschen ginge viel schneller als dieses Gehirn danach wieder freizubekommen. "Dazu braucht es Experten und die Mithilfe der Familie."
Oft sind es auch nicht die Lautstarken, die sich anwerben lassen, sondern ruhigere Charaktere mit ansprechenden schulischen Leistungen.
In Wien wird daher ein Netzwerk zur Deradikalisierung und Prävention aufgebaut (der KURIER berichtete). In Wien bieten Jugendanwaltschaft und Stadtschulrat Fortbildung für Lehrer und Sozialarbeiter an. Sie sollen unterscheiden können, was noch pubertäres Verhalten oder Provokation ist und wo Extremismus beginnt.
Denn es ist nicht einfach, radikale Tendenzen zu erkennen. "Oft gibt es nur Indizien", erklärt man im Büro von Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl. "Zum Beispiel, wenn sich ein junges Mädchen immer modisch gekleidet hat. Und binnen kurzer Zeit bemerkt man eine radikale Änderung – weil sie sich etwa auf einmal verschleiert." In solchen Fällen suche man das Gespräch mit den Eltern und falls nötig mit den Behörden.
Dabei gehe es nicht darum, muslimische Kinder unter Generalverdacht zu stellen, betonen Jugendanwalt und Stadtschulrat. Das Ziel sei der Schutz der Kinder.
Experten sind sich einig: Dringend notwendig wären eine Hotline sowie eine weisungsfreie, unabhängige Ombudsstelle, an die sich Eltern und Lehrer anonym und kostenlos wenden können. Diese soll im Familienministerium eingerichtet und bundesweit aktiv werden.
Gefordert: JugendanwaltschaftDerzeit laufen die Telefone bei der Wiener Kinder- und Jugendanwaltschaft heiß. Direkter Draht: 01 / 70 77 000, www.kja.at, post@jugendanwalt.wien.gv.at.
Weitere InformationenAuch in den Bundesländern sind die jeweiligen Kinder- und Jugendanwaltschaften eine erste Adresse. Sie helfen konkret oder können weitervermitteln.
Ibrahim Yavuz ist Student der Orientalistik, Mihrican Topal Buchhalterin, Baruch Wolski Kinderbetreuer und Gülmihri Aytac Jugendcoach. Alle vier sind politisch interessierte Muslime der unterschiedlichsten islamischen Konfessionen – denen es reicht. "Genug ist genug", sagen sie angesichts des geplanten Islamgesetzes bzw. der "Panik- und Stimmungsmache", der sich Muslime ihrer Meinung nach ausgesetzt sehen. Um sich Gehör zu verschaffen, haben sie das "Netzwerk Muslimische Zivilgesellschaft" (NMZ) mitbegründet.
"Zu oft werden wir zu Objekten degradiert, mit denen willkürlich verfahren wird", meint Yavuz. Darum wolle man Muslime in Österreich aufrufen, initiativ zu werden und sich zu vernetzen. Das Ziel müsse sein, "politischen Widerstand gegen antimuslimische" Politik zu leisten.
Pluralismus
Nach Ansicht der NMZ wird in Österreich dem islamischen Pluralismus nicht genug Rechnung getragen. "Von der afrikanischen bis zur indonesischen Moschee, vom türkischen Kulturzentrum bis hin zu einer Sufi-Gemeinschaft; das alles in Summe sind die Muslime in Österreich. Die Vereine sind soziale Treffpunkte, Gebetsräume, Unterrichtsangebot etc. Das religiöse Leben findet zum größten Teil in diesen Vereinen statt", sagt Yavuz.
Durch das Islamgesetz, das Muslime "pauschal unter Generalverdacht stellt", sei das Vereinsleben in seiner bisherigen Form gefährdet.
Mit dem Gesetz in seiner jetzigen Form – bis 7. November dauert noch die Begutachtungsfrist – wolle "der Staat die Glaubensgemeinschaft dazu zwingen, die religiöse Lehre aller Muslime letztgültig zu definieren und das noch dazu über unsere Köpfe hinweg".
Zudem wirke das Gesetz desintegrativ. "Es macht uns, die Muslime in Österreich, die wir schon längst integraler Bestandteil dieser Gesellschaft sind, zu den Anderen, den Fremden. Unsere Religion wird misstrauisch beäugt, muss kontrolliert werden." Info: www.dieanderen.net