Bewertungsapp: Wenn Lehrer Angst vor Noten haben
„Wissen Sie, was Schicksal ist, Herr Hadrigan? Es sieht alles und es wird Sie vernichten.“
So lautet der Inhalt einer von unzähligen E-Mails, die Benjamin Hadrigan in den vergangenen Tagen erhalten hat. Es war noch eine der freundlicheren Nachrichten.
Der 18-jährige Benjamin Hadrigan ist der Entwickler der umstrittenen App „Lernsieg“, in der Schüler Lehrer mit Schulnoten von eins bis fünf bewerten können – der KURIER berichtete.
In den vergangenen Tagen wurde er „mit einer Flut an Hass-E-Mails konfrontiert, die einem Schüler weder in Menge noch Inhalt zumutbar sind“, hieß es am Dienstag von seiner Pressesprecherin. Absender der E-Mails seien „den Tönen nach eher Erwachsene gewesen“. Ob es Lehrer waren, könne man nicht nachprüfen.
Das Überraschende: Die Schüler selbst nutzten die App – wider Erwarten – nicht, um sich an Lehrern zu rächen. Bis die App offline genommen wurde, erhielten Schulen im Schnitt 3,88 Sterne und Lehrer 3,96 Sterne. Das entspräche einem „Gut“ im Schulnotensystem.
Scheu vor Feedback
Woher aber kommt der große Widerstand der Lehrer gegen Bewertungen?
„Die Lehrer lassen sich in die Opferrolle drängen, die ihnen die Gesellschaft oktroyiert. Das ist komplett destruktiv. Ich würde mir von den Lehrern eine offenere Haltung wünschen. Jeder Beruf wird heutzutage bewertet“, sagt Kurt Scholz, einstiger Präsident des Wiener Stadtschulrates.
Scholz weiß, wovon er spricht. Er hat selbst ähnliche Erfahrungen gemacht. Bereits vor 25 Jahren hat er ein bundesweites, schulinternes Bewertungssystem für Lehrer vorgeschlagen: „Die Reaktion war damals dieselbe wie heute. Die Lehrergewerkschaft hat mich durchs ganze Land geohrfeigt, obwohl das System in Zusammenarbeit mit ihr erstellt wurde.“
Das Bewertungssystem wurde schließlich nur versuchsweise umgesetzt. Die Ergebnisse waren ähnlich der App „Lernsieg“: Die Bewertungen seien zu 80 Prozent positiv gewesen, erinnert sich Scholz.
Qualitative Bewertungen
Das Argument, dass ein 12-Jähriger die Qualität eines Lehrers nicht verhältnismäßig beurteilen könne, hält der Bildungsforscher Stefan Hopmann für einen „kompletten Schmarren“: Die Schüler seien „kompetente Teilnehmer ihres Alltags“ und sollten gehört werden, sagt er zum KURIER. Effektiver als quantitative Bewertungen seien jedoch regelmäßige Feedback-Gespräche zwischen Lehrern, Eltern und Schülern.
Ähnlich sieht das Bildungsexpertin Heidi Schrodt: „Es gibt zwar gute Feedback-Instrumente an Österreichs Schulen, diese werden allerdings viel zu wenig genutzt. Direktoren haben oft nicht die Zeit, Lehrer in ihrem Unterricht zu beobachten.“ Als großes Problem der App sieht Schrodt, dass einzelne Lehrer an den Pranger gestellt würden.
Wie es nun weiter geht? In den kommenden Tagen will das Team rund um App-Entwickler Hadrigan eine Strategie für den Umgang mit Hassnachrichten entwickeln. Dann soll die App wieder online gehen.
Gewerkschaft will klagen
Denn ans Aufgeben denkt Hadrigan derzeit nicht. Philipp Ploner, Inhaber einer Social-Media-Agentur in Wien, ist einer der Investoren der App. „Mit der vorübergehenden Deaktivierung sind wir auf die Lehrergewerkschaft zugegangen. Wir stehen für Gespräche bereit“, so Ploner.
Seitens der Lehrergewerkschaft denkt man nicht daran: Das Bildungsministerium sowie die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) haben ein Gutachten in Auftrag geben lassen, das klären soll, ob bei der Datenverarbeitung alle Rechte gewahrt bleiben.
Zudem soll geprüft werden, ob die Weitergabe der Schülerdaten (die Telefonnummer samt der von ihnen besuchten Schule, Anm.) an Dritte wie die App-Investorengruppe verhindert wird und ob ungerechtfertigt schlechte Beurteilungen gelöscht werden.
Am Dienstag wurden an alle Lehrer Formulare ausgeschickt, um die Entfernung der Daten aus der App einzufordern. In den kommenden Tagen sollen Klagen folgen.
Die Tatsache, dass die ersten Bewertungen in der App durchaus zu Gunsten von Lehrern ausgefallen sind, ändere für die Gewerkschaft nichts, heißt es auf Nachfrage. Übrigens: Dass die Hass-Mails von Lehrern gekommen seien, bezweifle man „stark“.
Während sich die Lehrer der Volks-, Mittelschulen und Gymnasien bei Bewertungen oft querstellen, gehört Feedback an Österreichs Hochschulen zum Alltag.
An der Wirtschaftsuniversität Wien etwa gibt es professionelle Lehrevaluierungen, die regelmäßig von der Institution selbst durchgeführt werden und für die Studierende um Feedback gebeten werden. Zudem gibt es einen unabhängigen, sogenannten „Prof Check“ der ÖH. Dieser ist für alle Mitarbeiter der WU einsehbar. Die Vortragenden werden dabei in Qualitäten wie Lerninhalte, Atmosphäre, Benotung und Verfügbarkeit bewertet. Auch Kommentare können hinterlassen werden.
Ähnlich transparent verläuft die Bewertung der Lehre an den österreichischen Fachhochschulen. An der FH Wien werden regelmäßig Mails an die Studierenden ausgeschickt mit dem Aufruf, Lehrveranstaltungen zu evaluieren. An der FH St. Pölten werden am Semsterende die besten Votragenden sogar ausgezeichnet.
Im September lief in Hamburg ein Pilotprojekt an, bei dem Schüler ihre Lehrer bewerten können. Die Lehrer wählen am Semesterende 56 Fragen aus einem Expertenkatalog aus, die sie ihren Schülern stellen wollen. Keine Schule wird gezwungen, mitzumachen. Die Ergebnisse bekommt nur der jeweilige Lehrer zu sehen. Die Entwickler des Projektes sehen darin keine Überwachung, sondern eine Möglichkeit, Lehrer und Schüler zum Nachdenken zu bringen.