Chronik/Österreich

Afghanistan-Analyst: „Es geht um Menschenleben“

Immer wieder reist Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analyst Networks (unabhängige Forschungseinrichtung, die u. a. Berichte des deutschen Auswärtigen Amts beurteilt, Anm.), nach Afghanistan. Der KURIER bat ihn bei seinem Wien-Besuch zum Gespräch.

Sie waren heuer schon zwei Mal in Afghanistan. Wie schätzen Sie die Lage aktuell ein?

Thomas Ruttig: Sicher ist das Land auf keinen Fall. Die Intensität und Ausdehnung des Konflikts ist größer und weiter als in den vergangenen 17 Jahren, seit der US-geführten Intervention gegen die Taliban. Die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorgänge, alles von Luft- bis Taliban-Angriffen, ist höher als je zuvor.

Die österreichische Regierung schiebt Asylwerber mit negativem Bescheid nach Afghanistan ab.

Ich finde das angesichts der Sicherheitslage nicht angebracht.

In Österreich wird argumentiert, dass es innerhalb Afghanistans Fluchtalternativen gibt. In Kabul etwa könnten junge Männer durchaus leben, heißt es.

Die sogenannte Binnenfluchtalternative Kabul oder in die anderen Großstädte ist und war schon immer unhaltbar, wird aber jetzt evident immer unhaltbarer.

Weil das höchste französische Asylgericht Kabul zuletzt als Ort „hochintensiver blinder Gewalt“ beurteilte?

Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Ich arbeite mit vielen afghanischen Kollegen zusammen und kriege das täglich mit. Die fürchten sich. Bei Anschlägen zucken die Menschen zusammen, lassen alles fallen, fangen an, ihre Angehörigen anzurufen, ob noch alle da sind. Die Leute sind völlig traumatisiert.

Sie sagen, dass die afghanische Regierung die Zahl jener Menschen, die unter der Armutsgrenze liegen, nach oben korrigieren musste.

Und zwar von 32 oder 34 Prozent im Jahr 2011 auf 54,5 Prozent. Das war schon eine ganze Weile bekannt, aber die afghanische Regierung wollte das zuerst nicht bekannt geben. Die Armut in Afghanistan ist heute größer, als sie kurz nach dem Sturz der Taliban war, wo die ganze Entwicklungshilfe noch nicht wieder angeschlagen hatte. Das ist eine niederschmetternde Bilanz.

Was bedeutet Leben unter der Armutsgrenze in Afghanistan?

27 Euro im Monat. Die Zahl der Leute, die in sogenannter Nahrungsmittelunsicherheit leben – früher hätte man gesagt die hungern – ist von gut 30 Prozent auf 44 Prozent hochgegangen. 20 bis 30 Prozent leben nur knapp über der Armutsgrenze. Nur zehn, maximal 20 Prozent der Bevölkerung haben so etwas wie ein ordentliches Leben.

Viele Flüchtlinge kommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Österreich. Die Regierung will den „Zuzug ins Sozialsystem“ stoppen. Können Sie das nachvollziehen?

Ich finde es skandalös und absolut falsch, eine Trennung zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen zu unternehmen. Afghanistan zum Beispiel ist durch vier Jahrzehnte interne und internationalisierte Konflikte gegangen, da kann man das überhaupt nicht mehr voneinander trennen.

Der Gerichtssachverständige Karl Mahringer – gegen den ein Verfahren läuft (siehe unten) – sagt, man könne junge Männer durchaus zurückschicken.

Deswegen rede ich so viel über die sozialökonomischen Fakten und die Sicherheitslage – die ist selbsterklärend. Natürlich gibt es Auffangmechanismen in der afghanischen Gesellschaft: Ich habe einen Kollegen, der für 17 Kinder sorgt, weil seine Brüder erschossen wurden oder verschwunden sind. Der kriegt aber bei uns noch ein Gehalt, wo er das gerade noch so hinkriegt. Viele andere haben das nicht. Die Auffangmechanismen wurden durch den Krieg zerstört.

Was halten Sie von Mahringers Gutachten?

Ich dachte: „Über welches Land redet der eigentlich?“ Mahringer hat das mit Unwissenschaftlichkeit betrieben. Er hat – das ist für mich die Hauptkritik – vorliegende Literatur und Untersuchungen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Der hat Zeilenschinderei betrieben, im größten Ausmaß.

Dennoch hat er in Österreich eine Monopolstellung als Gerichtssachverständiger für Afghanistan.

Das finde ich – ironisch gesagt – überraschend. Es ist nicht zu vertreten, dass man nur einen „Experten“ hat. Im Grunde ist das ziemlich skandalös, weil es ums Überleben, um Menschenleben geht. Da kann man es sich nicht so einfach machen. Seine Folgerungen sind zum großen Teil falsch. Und ich würde sagen, dass ich mich da besser auskenne als Meister Mahringer, der als Berater nicht sehr viel rumkommt.

In Österreich ist die Stimmung gegenüber Afghanen – wegen Vergewaltigungen, Messerstechereien, sexuellen Belästigungen – recht feindlich gesinnt. Kann man noch gegensteuern?

Ich finde das empörend, aber Kriminalfälle sind Kriminalfälle, die haben keinen ethnischen Hintergrund. Jeder Kriminalfall ist einer zu viel, aber nur die an die große Glocke zu hängen, an denen Flüchtlinge beteiligt sind, ist falsch, Populismus und Stimmungsmache. Ich bin gerade einen Tag durch Wien spaziert und es sieht hier nicht wirklich nach Elend aus. Vielleicht war ich nicht in den Gegenden, wo es den Leuten schlecht geht, aber die Afghanen saufen den Wiener nicht den Kleinen Braunen weg.

Man kann auch argumentieren: Hätte man weniger Flüchtlinge aufgenommen, gäbe es einige Fälle weniger.

Könnte man, aber so funktioniert die Welt nicht. Wir sind keine Insel mehr und damit muss man klarkommen.

Experten sagen, dass junge Afghanen durch den langen Krieg oft „verroht“ seien.

Für die Leute muss es psychosoziale Betreuung geben. Die fliehen von Krieg und den Ergebnissen davon. Afghanistan unterscheidet sich nicht so stark von dem, was in Europa läuft. Man sieht auch unter bestimmten Gruppen von Einheimischen einen Abbau von gegenseitiger Rücksichtnahme. Das ist dort nicht anders. Afghanen haben auch Erziehung genossen, vermitteln ihren Kindern Werte, die ihrem System entsprechen – ich rede nicht von der Scharia. Das sind ordentlich erzogene, höfliche Leute.

Hierzulande geraten Afghanen oft mit Tschetschenen in Streit. Warum diese beiden Gruppen?

In Deutschland ist es so, dass Flüchtlinge unterschiedlich behandelt werden. Da haben wir mehr Konflikte, wo Afghanen und Syrer aufeinander losgehen. Das hat damit zu tun, dass die Afghanen zurecht denken, dass sie benachteiligt behandelt werden, weil Syrer bessere Bleibechancen haben. Das entlädt sich dann leider.

Afghanen gelten hier als potenzielle Vergewaltiger, bei Syrern denkt man an freundliche Familienväter. Warum? Das hat mit der Hierarchie zu tun. Es gab auch schon früher starke Fluchtbewegungen von Afghanen – vor den Taliban. Da hatten sie in Europa super Anerkennungsquoten und waren ,gute Flüchtlinge’. Die Politik gibt den Ton vor.

 

Zur Person

Thomas Ruttig (60) ist Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN).  Ab 2000 arbeitete er für die Vereinten Nationen und war stellv. EU-Sondergesandter. Ruttig studierte an der Berliner Humboldt-Universität Asienwissenschaften mit Schwerpunkt Afghanistan und spricht zwei afghanische Landessprachen – Dari und Paschtu – fließend. Seit 35 Jahren ist er mehrmals pro Jahr in Afghanistan. Insgesamt hat er dort 13 Jahre verbracht.