Chronik/Niederösterreich

Bei jedem Geburtstag ist in Gedanken auch Leopold Figl dabei

Immer am 2. Oktober wird im Hotel zur Post in St. Valentin (Bezirk Amstetten ) österreichische Zeitgeschichte erlebbar. Die Seniorchefin Annemarie Rogl hat an diesem Tag Geburtstag. Sie ist die Nichte des Bundeskanzlers und Staatsvertragsverhandlers Leopold Figl, der am selben Tag seinen Geburtstag feierte. Mit ihm erlebte Annemarie so manches historisches Ereignis, und bei runden Geburtstagen lud der Onkel Annemarie zum gemeinsamen Feiern auch ins Kanzleramt ein.

Um die Mittagszeit stellten sich gestern zahlreiche Gratulanten aus St. Valentin bei der Jubilarin ein, um auf ihren 82. anzustoßen. Leopold Figl hätte seinen 122. Geburtstag gehabt. Präsent ist der 1965 verstorbene Bauernsohn, der es zu einem der bedeutendsten Staatsmänner der Republik brachte, aber im Hause Rogl immer.

Heuer richtete die Familie etliche Speiseräume neu ein. Im eleganten Figl-Zimmer nimmt den Besucher sofort ein historisches Bild in Beschlag. Es zeigt Figl und den sowjetischen Präsidenten Nikita Chruschtschow beim legendären Staatsbesuch am Bauernhof von Figl in Rust im Tullnerfeld im Jahr 1961.

Kukuruz-Wette

"Da haben sie die berühmte Kukuruz-Wette abgeschlossen. Zuerst wurde im Hof im Freien gegessen, dann ist der Onkel mit Chruschtschow aufs Maisfeld hinaus gefahren“, erinnert sich Annemarie an das Ereignis. Oben am Strohboden hatten sich Kriminalbeamte, Feuerwehrleute und Polizisten versteckt, um den russischen Staatsgast zu schützen. Bei der Wette zwischen Figl und Chruschtschow ging es darum, ob der Mais im Tullnerfeld oder in Russland höher wachse.

Wodka und Kaviar

Erinnern kann sich Annemarie Rogl noch an jede Einzelheit. Wie am Bild im Figl-Zimmer genau zu sehen ist, erlebte sie die Geschehnisse hautnah mit, weil sie vom Onkel als Bedienerin engagiert worden war. "Nie vergessen werde ich auch Innenminister Afritsch, der am Tisch saß. Er hat gesagt, Mädel bitte pass auf, dass du nicht niederfällst“, erzählt Annemarie Rogl lachend. Als Gastgeschenk hatte Chruschtschow Wodka und Kaviar mitgebracht, „den Kaviar haben wir gar nicht gekannt“.

An Onkel Leopold hat die rüstige Dame viele sehr positive Erinnerungen. Aber auch die Narben auf seinem Rücken, die ihm mit Peitschenhieben beim fünfjährigen KZ-Aufenthalt in Dachau zugefügt wurden, gingen ihr nie aus dem Sinn. Von sich aus habe Figl von seinen KZ-Gefangenschaften in Mauthausen und Dachau aber nie erzählt, sagt sie.

Interessierte Gäste

Beeindruckt ist die Gastronomin von vielen ausländischen und österreichischen Gästen, die ins Hotel kommen, um sich über den Staatsmann zu erkundigen. Für diese Leute sei es natürlich besonders interessant, eine Zeitzeugin und noch dazu so nahe Verwandte Figls erzählen zu hören. „Ich war noch dazu seine Lieblingsnichte“, sagt sie nicht ohne Stolz.