Wir tickern live: Von Sinn und Unsinn des Tickerns
Es beginnt fast immer mit einer kryptischen Nachricht vom Chef. „Wer ist online? Nizza“ zum Beispiel. Das war am 14. Juli um 23:08. Wer da online war, war noch lange wach. Journalist sein, heißt auch ständig in Bereitschaft sein. Besonders, wenn das Medium, dem man den Großteil seiner Zeit und seines Herzbluts schenkt, ein digitales ist. Kein Redaktionsschluss, keine örtliche Abhängigkeit. Veröffentlicht werden kann zu jeder Zeit, von jedem Ort.
Blutüberströmte Leichen im Wohnzimmer
Im Laufe des Jahres wurden die Fragen zu Ansagen. Nicht mehr „Wer legt einen Ticker an?“ „Wer kümmert sich um Facebook?“, sondern: „Ich mach Ticker.“ „Ich facebooke.“ Die Tragödie wurde zur Routine. Meistens saßen wir da auf unseren Sofas, nicht im Büro. Live zu tickern, das heißt nicht nur, die Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Sondern auch, sich die Bilder von blutüberströmten Leichen, von überfahrenen Menschen und fassungslosen Angehörigen, die über die Nachrichtenagenturen und sozialen Medien kommen, ungefiltert ins Wohnzimmer zu holen. Wenn man in einer Nacht wie der von Nizza überhaupt zum Schlafen kommt, schläft man nicht gut.
Was ist "live"?
Es ist aber auch eine Täuschung. „Live“ impliziert den Redakteur vor Ort, der die Dinge mit seinen eigenen Augen beobachtet und nach bestem Wissen und Gewissen berichtet. Doch „live“ bedeutet beim Tickern in den meisten Fällen: Live vor den Agenturen und den sozialen Medien zu sitzen, nicht vor Ort zu sein. Es ist schlicht unmöglich, um 22 Uhr schnell nach Istanbul zu fliegen um einen Putschversuch zu verfolgen und direkt jede Meldung für den Leser aufzubereiten.
Eine Achterbahnfahrt der Informationen
„Gewissenhaftigkeit und Korrektheit in Recherche und Wiedergabe von Nachrichten und Kommentaren sind oberste Verpflichtung von Journalisten“, schreibt der Ehrenkodex für die österreichische Presse vor. Wie ein Arzt sich dem Hippokratischen Eid verpflichtet fühlt, ist für Journalisten der Ehrenkodex der Presse oberstes Gebot. Das gilt auch bei einem Ticker. Bei jedem einzelnen Tick. Dennoch sind Ticker von aktuellen Ereignissen oft wie eine Achterbahnfahrt der Informationen. Das zeigte sich einmal mehr bei dem Attentat von Berlin. Der festgenommene Verdächtige war einen Tag darauf komplett unschuldig. Später hieß es, der mutmaßlich schuldige, flüchtige Täter wurde von Kameras vor einer Moschee eingefangen. Nur Stunden später blinkten auf den Smartphones die Alarmmeldungen auf: „Mutmaßlicher Attentäter von Berlin in Mailand erschossen.“
Was wir wussten und was wir nicht wussten
Aber auch wir sind – zumindest implizit – davon ausgegangen, dass der Mann, der am Abend des Anschlags in Berlin verhaftet wurde, etwas mit der Tat zu tun hat. Es ist eine Gratwanderung, jedes Mal wieder. Und eine Frage der Semantik: Ist ein Putsch, der gerade stattfindet, auch dann einer, wenn er Stunden später scheitert? Wird der Putsch also erst im Nachhinein zum Putschversuch, wenn er dann gescheitert ist, oder hätten wir nie von Putsch schreiben dürfen? Die Entscheidungen werden oft in Sekundenschnelle getroffen.
Impressionismus statt Realismus
Als „Kaleidoskop aus Kurzinformationen“ bezeichnete der deutsche Journalist Stefan Niggemeier Ticker in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der verantwortliche Journalist sammelt die Fakten, wählt die vermeintlich richtigen Meldungen aus, entscheidet, ob etwas berichtenswert oder interessant genug ist, um den Leser zu informieren und bildet damit das Fundament des Tickers. Tweets verschiedenster Menschen - Augenzeugen, Politiker, Korrespondenten und lokaler Journalisten - sorgen für Persönlichkeit. Fotos, egal ob von Amateuren oder Profis, geben dem Ganzen ein Gesicht. Bildlich gesprochen will der Journalist mit einem Ticker ein fotorealistisches Bild à la Gottfried Helnwein malen, das Ergebnis gleicht jedoch eher einem impressionistischen Werk à la Claude Monet - man erkennt das Motiv, die Details sind verschwommen.
Warum wir trotzdem tickern
Warum tun wir das dann, warum tickern wir überhaupt? Natürlich weil es gut geklickt wird. Natürlich weil es die anderen auch machen. Weil wir nicht sagen können: Bei uns werden sie erst morgen informiert. Aber es gibt auch gute journalistische Gründe; und die kennt jeder, der sich während eines Attentats in den sozialen Medien umgeschaut hat. Die Toten von München waren noch nicht geborgen, da tauchte auf Twitter ein Foto eines Erschossenen in einem Einkaufszentrum auf, angeblich ein Opfer in München. Das Foto stammte aus Afrika, es verbreitete sich dennoch auf Twitter. Die Toten von München waren noch nicht geborgen, da wurde in den sozialen Medien gegen Muslime gehetzt, ein islamistischer Terroranschlag als Fakt gesehen. Qualitätsmedien halten sich auch beim Tickern an Qualitätsstandards. Wir versuchen beim Tickern, dem Voyeurismus Einhalt zu gebieten, wir zeigen keine Toten und Verletzten. Es reicht, wenn wir ein verwackeltes Handyvideo sehen müssen, in dem ein Lkw in eine Menschenmenge fährt; wir werden es unseren Lesern nicht zumuten.
Die Kunst des Tickerns ist das Abwägen zwischen dem Veröffentlichen und dem Zurückhalten von Informationen. Dafür versucht man, alle Kanäle gleichzeitig zu verfolgen. Aus dem Fernseher plärrt ein Nachrichtensprecher, auf dem Bildschirm reiht sich Tab an Tab, Fenster an Fenster. Twitter und Facebook, fünf andere Medien und drei Nachrichtenagenturen, das Redaktionssystem und ein Fotofeed. Eine mediale Überdosis, die es auszuhalten und zu sortieren gilt. Dabei passieren Fehler, keine Frage. Aber wir tun unser Bestes, die Wahrheit zu berichten, die relevanten von den irrelevanten Fakten zu trennen. Bis das Bild nicht mehr verschwommen ist. Und wir schlafen gehen können.