Pflanzenwelt: Das grüne Gedächtnis
Von Claudia Elmer
Sie produzieren Sauerstoff, den wir einatmen, stellen Wirkstoffe für unsere Medikamente bereit, liefern Nahrung für Tier und Mensch oder dienen als Wände und Dächer für unsere Häuser: Der Nutzen von Pflanzen ist enorm, wenn auch längst nicht ausgeschöpft: Unmittelbar profitieren wir von rund zehn Prozent aller Pflanzenarten.
„Noch lohnender wäre es allerdings, wenn wir sie nicht nur nutzen, sondern auch von ihnen lernen würden“, sagt Stefano Mancuso. Die grünen Wesen seien weitgehend unterschätzt und alles andere als passive Vegetierer. „Pflanzen sind vorbildlich zeitgemäß“, stellt der Botanik-Professor in seinem neuem Buch „Pflanzenrevolution“ fest. Vor wenigen Jahren ging er in „Die Intelligenz der Pflanzen“ dem IQ von Salatköpfen und Sonnenblumen auf den Grund. Nun erörtert er, was der Mensch von Löwenzahn, Seerosen, Zwergpalmen und Pinienzapfen lernen kann.
Schon vor Urzeiten hat die Botanik Lösungen für Probleme entwickelt, mit denen wir heute zu tun haben – ob es um Materialien, Energieversorgung oder Anpassungsstrategien geht. Denn obwohl Pflanzen kein zentrales Organ wie ein Gehirn besitzen, sind sie überaus intelligent: Sie können ihre Umgebung sensibler wahrnehmen als Tiere, können aktiv um Boden- und Luftreserven kämpfen, Gefahren erkennen, Muster wahrnehmen und sich sogar daran erinnern.
Letzteres teste Mancuso etwa an Mimosen, kleine Pflanzen, die ihre Blättchen bei Berührungen oder Erschütterungen schließen. Er ließ Mimosentöpfe immer wieder zehn Zentimeter tief fallen – anfangs klappten die Mimosen zu, doch nach sieben, acht Versuchen hatten sie sich an den Sturz gewöhnt und die Blätter blieben offen. Die Pflanzen waren aber nicht ermüdet: Auch nach vierzig Tagen erinnerten sie sich daran und stuften den Reiz als ungefährlich ein. Auf andere Impulse erschraken sie wie gewohnt. Sie hatten also gelernt, harmlose von gefährlichen Reizen zu unterscheiden.
Diese Erkenntnisse ist nicht nur für die Botanik von Interesse. „Wenn wir begreifen wie ein Gedächtnis ohne Gehirn funktioniert, können wir nicht nur das Rätsel um das Pflanzengedächtnis lösen, sondern auch unser eigenes besser verstehen“, sagt Mancuso. Neben der Gedächtnisforschung können aber auch andere Bereiche von der Natur lernen – die Landwirtschaft, die Architektur, oder die Weltraumforschung. Von der Konstruktion neuer Roboter bis zur Organisation von großen Gemeinschaften gibt es keine bessere Inspirationsquelle als die Pflanzen, glaubt Mancuso. „Sie könnten für uns also eine alternative Blaupause sein, die wir ernsthaft in Betracht ziehen sollten.“