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Wenn die Familie um den Tisch sitzt

Mavie ist erst fünf Jahre alt, aber schon eine sehr große Genießerin. „Sie sitzt wahnsinnig gern lange beim Essen“, sagt ihre Mutter Manuela Moya, 40. Diese Vorliebe gibt der Familie auch Raum für ausgedehnte Mahlzeiten. „Wir nehmen uns Zeit. Das gibt’s bei uns nie, dass das Essen hinuntergeschlungen wird.“

Zwei Mal täglich wird der Esstisch bei den Moyas zum Zentrum des Familienuniversums. Das war schon in Manuelas eigener Kindheit ein wichtiges Ritual. „Meine Mutter hat täglich zu Mittag gekocht.“ Ganz selbstverständlich setzt die Geschäftsführerin der Fachzeitschrift „Arzt und Praxis“ deshalb auch ihr Familienessen täglich um – allerdings abends. „Ich bin berufstätig und alleinerziehend, da wird alles manchmal knapp. Das gemeinsame Essen ermöglicht mir dennoch, Zeit mit meiner Tochter zu verbringen.“ Nicht einfach zur Nahrungsaufnahme: „Diese Zeit hat zwischenmenschlich hohe Qualität für mich.“ Und manchmal gesellen sich die Oma und Tante dazu, dann wird das Essen ein Mehr-Generationen-Menü.

Solches Ess-Verhalten ist ganz nach dem Geschmack von Jesper Juul. Der bekannte dänische Familientherapeut beschäftigt sich intensiv mit der Rolle des Essens in der Beziehung zwischen Eltern und Kind. Am familiären Esstisch werden schließlich Essverhalten und Geschmacksvorlieben geprägt.

Treffpunkt

Aus Juuls Sicht fördert die Mahlzeit im Kreise der Familie Zusammenhalt und Verbindung, besonders in Zeiten von Kommunikationspartnern wie Smartphone oder iPad. „Essen in der Familie ist wie ein Marktplatz. Da treffen sich alle.“ Er hält für äußerst wichtig, dass Familien diese Arena tatsächlich nützen. „Es ist praktisch die einzige Möglichkeit für Eltern, einen Gesamtüberblick über die Familie zu bekommen.“ Claudia Bischof, Therapeutin in Juuls Österreich-Niederlassung „family­lab“, ergänzt: „Auch wenn Kinder durch neue Medien heute anders kommunizieren als ihre Eltern, haben sie die gleichen Bedürfnisse nach Kontakt und Austausch.“ Gemeinsames Essen schaffe diese Verbindung. „Vorausgesetzt, Eltern verwenden diese gemeinsame Zeit nicht zum Erziehen.“ Zurechtgewiesen oder beobachtet zu werden, schlage sich oft erst recht auf den Appetit. „Im besten Fall ist Essen vom Anbeginn des Lebens mit Nähe, Geborgenheit, Liebe und Fürsorge verbunden. Wenn die Familie zusammenkommt, ohne etwas leisten zu müssen, stärkt das die Beziehungen.“

Je älter Kinder werden, umso schwieriger wird es, sie für gemeinsame Familienzeit zu gewinnen, weiß die Expertin. „Wir haben als Eltern nur die Möglichkeit, selbst klar auszudrücken, was wir wollen. Wenn die Jugendlichen dann trotzdem nicht mitmachen, ist es wichtig, sie nicht dafür zu ‚bestrafen‘, weil sie jetzt lieber mit Freunden zusammen sind.“ Die Eltern bleiben nämlich auch in den oft schwierigen Pubertätsjahren die wichtigsten Personen für die Teenager – selbst wenn sie es nicht ausdrücken. Bischof: „Sie brauchen von Eltern vor allem, dass sie so, wie sie sind, geliebt werden.“

Plaudern und blödeln

Dies scheint bei Ursula Fischer, 50, und ihrer Familie geglückt zu sein. Obwohl die Kinder Fabian, 22, und Julia, 21, praktisch erwachsen sind, „kämen sie nie auf die Idee, nicht mitzuessen, wenn sie daheim sind.“ Seit die zwei studieren, hat sich das abendliche Treffen am Esstisch zwar von täglich auf mehrmals pro Woche reduziert. Die Universitätsangestellte, die gerne und täglich nach der Arbeit kocht, nimmt das gelassen. „Wichtig ist, dass wir uns überhaupt zusammensetzen. Zum Plaudern, Austauschen und auch zum Blödeln. Jeder weiß, was mit den anderen los ist.“ Die Mahlzeiten waren immer Fixpunkte: „Mein Ex-Mann und ich haben gern gekocht und gegessen. Wir wollten, dass auch die Kinder von klein auf ordentlich essen.“ Dafür gab es sogar kleine Rituale mit eigenen Tischsets und Sitzen.

Die Bedeutung solcher Inszenierungen und Regelmäßigkeiten betont die Ernährungswissenschaftlerin und Food-Expertin Hanni Rützler. „Die Forschung zeigt: Die Psychologie hat Einfluss auf die Aufnahme und Verdauung der Nährstoffe.“ Rituale und Gemeinsamkeiten erhöhen den Essgenuss. „Es entsteht ein Rhythmus und Essen bekommt einen anderen Stellenwert, wenn man es gemeinsam verzehrt.“ In unserer schnelllebigen Zeit mit unzähligen Imbiss-Varianten plädiert sie für Innehalten und Aufmerksamkeit für das, was man auf dem Teller hat. „Die beste Jause schmeckt nicht, wenn man sich nicht die nötige Zeit dafür nimmt. Wenn man immer nebenher isst, heißt das: Essen ist mir nichts wert. Wer schlingt, nährt weder Körper noch Seele.“

KURIER: Was bedeuten Rituale für Kinder?

Monika Faisl: Kinder lieben Wiederholungen, das gehört für sie zu ihrem Verständnis von Leben. Sie geben ihnen Sicherheit. Rituale sind solche wiederkehrenden Abläufe im Alltag. Sie gliedern und ordnen, sie geben Struktur und Geborgenheit und vermitteln Werte. Das ist vielleicht heute noch wichtiger geworden. Die Kindheit hat sich verändert und es gibt sehr rasche Veränderungen. Durch Rituale werden Erlebnisse tiefer eingebrannt.

Gibt es bestimmte Rituale, die in vielen Familien zu finden sind?

Das ist sehr unterschiedlich. Gemeinsame Mahlzeiten sind wichtige Säulen, weil sie das Wir-Gefühl stärken. Ein gemeinsames Abendessen hilft, den Tag zu verarbeiten. Rituale haben ja nicht umsonst den Zweck, dass man zur Ruhe kommt.Oft erleichtern sie sogar einen Übergang von einer Situation zur anderen – die Gute-Nacht-Geschichte etwa weist auf die Schlafenszeit hin. Generell sollten Rituale aber an die Bedürfnisse der Familie angepasst werden. Sie dürfen kein Zwang sein, einengen oder stressen.

Erübrigen sich manche Rituale irgendwann von selbst oder soll man sie aktiv beenden?

Idealerweise passt man sie an die Bedürfnisse an. Rituale müssen mitwachsen. Man kann etwa die Gute-Nacht-Geschichte durch ein Spiel ersetzen. Das Schöne an Ritualen ist, dass sie jederzeit angepasst werden können. In der Schulzeit kann es zum Beispiel die Freude des Kindes steigern, wenn man es am Morgen in den Arm nimmt und ihm viel Spaß wünscht.