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Bandscheiben sind oft unbeteiligt

Fast 90 Prozent der Bevölkerung Österreichs sind im Laufe ihres Lebens von Rückenschmerzen betroffen. Kommt es – etwa durch einen Bandscheibenvorfall – zu einer Reizung oder Schädigung von Nervenwurzeln, ist auch die Expertise eines Neurologen gefragt , sagt Prim. Priv.-Doz. Nenad Mitrovic, Leiter der Abteilung für Neurologie im Landeskrankenhaus Vöcklabruck, OÖ.

KURIER: Was sind Warnzeichen dafür, dass bei einem Rückenschmerz auch Nerven in Mitleidenschaft gezogen sind?

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Nenad Mitrovic:Patienten, die unter Rückenschmerzen leiden, die in ein Bein ausstrahlen, mit einem Taubheitsgefühl oder Lähmungserscheinungen einhergehen oder in der Nacht stärker werden, sollten unbedingt einen Neurologen aufsuchen. Wenn sie zusätzlich zum Rückenschmerz sogenannte „red flags“ (siehe Grafik) aufweisen, sollte umgehend eine ausführliche diagnostische Abklärung inklusive Bildgebung – CT oder MRT – erfolgen, da sich dahinter andere Erkrankungen wie z. B. ein Wirbelbruch oder eine Borreliose verstecken können. Strahlen die Schmerzen hingegen in den Bereich des Gesäßes aus, deutet das eher auf orthopädische Ursachen – etwa Abnützungserscheinungen – hin.

Ist bei jedem Rückenschmerz sofort ein bildgebendes Verfahren wie MRT notwendig?

Ohne „Red-Flag-Symptome“ ist das bei unspezifischen Rückenschmerzen – also ohne klar erkennbare Ursache, das ist die große Mehrheit – in den ersten 10 bis 14 Tagen nicht notwendig. In dieser Phase können Bilder eher für Verwirrung sorgen. Denn auch bei 20 bis 30 Prozent der gesunden, schmerzfreien unter 60-Jährigen und bei mehr als 60 Prozent der gesunden über 60-Jährigen werden in der Computer- oder Magnetresonanztomografie Bandscheibenvorfälle diagnostiziert. Aber möglicherweise war ein solcher, im Zuge von akuten Schmerzen entdeckter Bandscheibenvorfall schon seit vielen Jahren vorhanden, ohne je ein Symptom verursacht zu haben. Dann ist die Schmerzursache aber eine andere, etwa Abnützungserscheinungen. Häufig gibt es keinen Zusammenhang zwischen den Bildern und den Schmerzen. Hält ein Schmerz allerdings über 14 Tage an, muss man der Ursache nachgehen und die Bildgebung einsetzen – auch ohne Red-Flag-Symptome.

Wann ist eine Operation notwendig?

Eine sofortige Operation ist zum Beispiel dann angezeigt, wenn durch die Vorwölbung des Bandscheibenkerns in den Wirbelkanal ein oder mehrere Nervenwurzeln zusammengedrückt werden und es dadurch zu einer massiven Lähmungserscheinung, zu einer Blasen- und/oder Mastdarmlähmung kommt. Ohne derartige Beeinträchtigungen kann zunächst eine konservative Therapie – etwa Physiotherapie, Schmerzmittel, Infiltrationen – versucht werden. Anhaltender Kreuzschmerz ohne eine Kompression einer Nervenwurzel ist im Allgemeinen kein Grund für eine Operation.

Bringt eine Operation Vorteile gegenüber anderen Therapien?

In der Regel ist der spontane Verlauf eines Rückenschmerzes zumeist gutartig, der Großteil der Patienten wird wieder schmerzfrei. Zirka ein Drittel der Patienten können allerdings wiederkehrende Probleme bekommen. Die wirklichen Probleme beginnen, wenn Schmerzen chronisch werden, weshalb eine rechtzeitige und kompetente Behandlung notwendig ist.

Obwohl bei frühzeitig operierten Patienten die Schmerzen und die neurologischen Defizite laut neueren Studien rascher als bei nicht oder später operierten zurückgehen, gibt es nach Ablauf eines Jahres keinen signifikanten Unterschied zwischen operierten Patienten und Patienten, die eine konservative Therapie gemacht haben. Aus diesem Grund sollte die Indikation für eine Operation sehr streng gestellt werden.

Wird den Patienten heute noch Bettruhe empfohlen?

Nein, aber es gibt Patienten, die haben nach einem akuten Bandscheibenvorfall so starke Schmerzen, dass sie in den ersten Tagen nicht aufstehen können. Allgemein wird eine leichte bis mäßige körperliche Betätigung – Alltagsaktivität – empfohlen, einige Patienten benötigen jedoch anfangs strikte körperliche Schonung. Eine längerfristige Bettruhe ist jedoch unbedingt zu vermeiden. Hier ist es wichtig, die individuelle Balance zwischen Ruhe und Aktivität zu finden.

Sie schreiben in einem Fachartikel, dass der Anteil der Patienten, bei denen mittels Infiltration eine Nervenwurzelblockade durchgeführt wird, in letzter Zeit deutlich angestiegen ist. Was ist der Grund dafür?

Bei dieser Methode werden unter Röntgenkontrolle ein Lokalanästhetikum und Kortison direkt an die von der Bandscheibe bedrängte und zusammengepresste Nervenwurzel injiziert. Lange waren die Studienergebnisse über die Wirksamkeit dieses Verfahrens nicht eindeutig. Jetzt mehren sich aber die Daten, dass diese interventionelle Methode zumindest für einige Wochen den Schmerz reduzieren kann. Besonders bei Patienten, denen herkömmliche Schmerzmittel nicht gut helfen, ist diese Methode gerechtfertigt.

Allerdings muss man auch hier realistisch bleiben: Der Schmerz kann kurzfristig reduziert werden, andere Maßnahmen wie Physiotherapie sind trotzdem notwendig.Es hat sich jedoch in einigen Studien gezeigt, dass durch Infiltrationen die Anzahl der Operationen reduziert werden kann.

Der mechanische Druck auf eine Nervenwurzel ist nur eine mögliche Schmerzursache bei einem Bandscheibenvorfall (wobei nicht jeder Vorfall eine Nervenwurzelkompression auslöst). „Gleichzeitig werden Substanzen freigesetzt, die eine Entzündung der Nervenwurzel verursachen“, sagt der Neurologe Nenad Mitrovic. „Sehr oft wird der Schmerz wahrscheinlich durch eine Kombination von Entzündung und Druck ausgelöst.“ Deshalb sei auch der Einsatz antientzündlicher Medikamente eine sinnvolle Maßnahme.

Neurologen unterscheiden zwischen einem sogenannten Wurzelreizsyndrom und einem Wurzelkompressionssyndrom. „Beim Ersten ist die Wurzel irritiert, das kann einen starken Schmerz auslösen, aber ihre Funktion ist nach wie vor gut.“ Beim Kompressionssyndrom ist die Nervenwurzel räumlich bedrängt.

Unter anderem können Neurologen mit einer elektrophysiologischen Untersuchung (z. B. Elektromyografie) die Funktion und das Ausmaß der Nervenschädigung feststellen.

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