ADHS: Ist das Zappelphilipp-Syndrom ein Mythos?
Von Ute Brühl
Modekrankheit oder doch ein ernsthaftes Leiden? Über kaum eine Diagnose wird so heftig gestritten wie über ADHS, landläufig als Zappelphilipp-Syndrom bekannt. Ein Buch, das in Amerika für heftige Diskussionen gesorgt hat und jetzt auf Deutsch erschienen ist, wird die Fronten in der Diskussion weiter verhärten: "Die ADHS-Lüge. Eine Fehldiagnose und ihre Folgen". Geschrieben hat es Richard Saul, Kinderarzt und Neurologe aus Chicago.
Katastrophe
Viele Experten sind dennoch besorgt. Für Luise Poustka, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH Wien, ist es sogar "eine Katastrophe: Wenn öffentlich behauptet wird, dass es die Störung nicht gibt, haben es Betroffene schwerer, Hilfe zu bekommen. Zudem trauen sich Eltern, deren Kinder Anzeichen von ADHS haben, nicht, ihre Kinder daraufhin untersuchen zu lassen. Das ist ein Rückschritt."
Und das für sehr viele Kinder: Immerhin haben rund drei bis sieben Prozent der Kinder und Jugendlichen ADHS, Buben deutlich häufiger. Dass in Österreich zu schnell zum Rezeptblock gegriffen wird, kann man nicht behaupten: "Schätzungsweise werden insgesamt weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung medikamentös behandelt." Das sei eher zu wenig als zu viel. Denn Medikamente seien bei der Störung, vor allem wenn sie schwer ausgeprägt ist, besonders wirksam. Zusätzlich benötigen die Kinder auch eine Verhaltenstherapie, um ihr Verhalten besser kontrollieren zu lernen.
Für Diagnose und Therapien braucht es einen Facharzt. Doch Kassenärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es noch viel zu wenige. "In Wien gibt es ab April sechs niedergelassene Fachärzte mit Kassenzulassung. Das ist ein Fortschritt. Trotzdem brauchen Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen deutlich mehr Anlaufstellen", bemängelt Poustka. Im internationalen Vergleich sei das erschreckend wenig.
Auch Eltern brauchen spezifische Hilfe: "ADHS belastet die ganze Familie", weiß die Expertin. "Viele kommen in einen Teufelskreis, weil sie das Kind nur noch ermahnen und vor allem negative Interaktionen mit ihm haben. Im ersten Schritt der Therapie ist oft wichtig, dass Eltern wieder die positiven Seiten an ihrem Kind entdecken lernen, und einen anderen Blick auf den Unruhegeist bekommen." Die guten Seiten der ADHS-Kinder: Sie sind oft kreativ, offen und haben einen starken Gerechtigkeitssinn.
"Die Diagnose wird nicht leichtfertig vergeben", sagt Poustka. "Diese ist immer ein gründlicher, langer Prozess, in dem unter anderem abgeklärt wird, wie das Kind sich in verschiedenen Situationen verhält – zu Hause, in der Schule, mit Gleichaltrigen und beim Facharzt. Körperliche Untersuchungen und Leistungstests gehören ebenfalls dazu." Wann bei einem Kind ADHS vorliegt, ist medizinisch genau definiert: Kennzeichen sind Probleme bei der Aufmerksamkeit, impulsives Handeln und Hyperaktivität. "Nur wenn aus allen drei Bereichen Symptome vorliegen, , darf die Diagnose vergeben werden."
Übrigens seien es in den seltensten Fällen die Eltern, die unbedingt Medikamente für ihre Kinder wollen: "Die meisten wollen sich erst ausführlich über die Störung informieren und suchen einfach nur Unterstützung", sagt die Expertin.
Adrenalin im Blut
Allen, die Angst davor haben, ihren Kindern Medikamente zur verabreichen, sei gesagt, dass auch Richard Saul nicht ohne Pillen auskommt: "Bei Kindern, in deren Blut zu viel Neurotransmitter wie Serotonin oder Adrenalin vorkommt, sind Stimulanzien die Mittel der Wahl. Der Unterschied zu ADHS ist, dass es so weniger Kriterien für eine Diagnose brauche als es die langwierige Diagnose der Psychiater erfordere, sagt Saul auf KURIER-Nachfrage.
Auch die Zahl der Betroffenen sei nach dieser Definition etwas geringer. Der amerikanische ADHS-Experte Edward Hallowell urteilt daher auch über das Buch: "Ich stimme Saul zu, dass hinter den ADHS-Symptomen andere Krankheiten stecken können. Mir gefällt der Titel des Buchs nicht. Er hätte lauten sollen: Nicht alles, was nach ADHS aussieht, ist es auch."