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„Muss mich durchs Leben tasten“

Amadaé Modos ist 40 Jahre alt, hat Versicherungsmathematik studiert und fühlt sich „wunderbar“. Zahlen und Sprachen, fallen ihm „unendlich leicht“. Auf anderen Gebieten versteht der hochbegabte Wiener nur Bahnhof. „Ich hatte schon immer das Gefühl, ich müsste mich durchs Leben tasten. Als ob ich nicht von dieser Welt bin.“

Seit kurzem weiß er, warum. Er ist ein „Aspi“. So nennen sich Menschen mit Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus, selbst. Sie gelten vielfach als hochintelligent, haben aber Schwierigkeiten, Gefühle und Emotionen wie Freude oder Trauer anderer intuitiv zu erkennen und einzuordnen.

Seit bekannt wurde, dass der Amokläufer von Newtown in den USA auch zu dieser Gruppe zählte, regt sich in den USA und auch in Österreich Widerstand gegen die eindimensionale Gleichsetzung der Krankheit mit dieser Tragödie in einer Grundschule. In den USA entbrennt auch eine Diskussion über die Stigmatisierung psychischer Krankheiten. Eine Mutter schrieb im Internet: „Auch ich bin Adam L.’s Mutter.“

„In der Diskussion erschüttert uns am meisten die Aussage, Asperger-Menschen könnten nicht fühlen“, sagt die Psychologin Carolin Steidl, die sich seit Jahren im österreichischen Dachverband Autistenhilfe mit dem Asperger-Syndrom beschäftigt. „Dabei handelt es sich um sehr spannende Persönlichkeiten, die viel zu geben haben.“ Freilich ist nicht alles eitel Wonne. „Probleme tauchen meist dann auf, wenn das Verständnis der Umwelt fehlt.“ Die Betroffenen gelten oft lange als zurückgezogene Einzelgänger. Das Anderssein fällt meist auf, wenn es um Kontakt mit Gleichaltrigen geht, etwa in Kindergarten oder Schule. „Vielen sind einfach die Regeln einer Kontaktaufnahme oder des Umgangs miteinander nicht bekannt. Sie müssen dieses Gespür richtiggehend lernen – wie eine Fremdsprache“, sagt Steidl. Dazu gehöre so selbstverständlich Wirkendes wie dem Gegenüber beim Grüßen in die Augen zu schauen.

Alltag

Im Alltag hilft es, Asperger-Betroffene so wenig wie möglich mit unvorhersehbaren Ereignissen zu konfrontieren. „Sie haben da andere Bedürfnisse.“ Ebenso sollte das gesamte Umfeld informiert sein, was es heißt, eine andere Sicht auf die Dinge zu haben. „Das Verständnis der Mitschüler altersgerecht zu fördern, erleichtert die Situation für alle.“

„Die Schwierigkeit ist, gesellschaftlich damit umzugehen. Das ist nicht immer leicht. Die Aspis fühlen sich oft unwohl, da kann es auch zu Aggression kommen“, gesteht ein Vater im KURIER-Gespräch. Sein 22-jähriger Sohn Thomas (Name geändert) studiert heute Germanistik und ist spezialisiert auf den Sprachakrobaten Ernst Jandl. Gewisse Zusammenhänge zu erfassen, menschlich einzuordnen und Schlüsse daraus zu ziehen, gelingt ihm trotzdem nicht immer. „Jahrelang konnten ihn die Ärzte nicht richtig einordnen. Manche meinten, er wird nie selbstständig.“ Der Bub wurde von seinen Eltern in jeder Hinsicht gefördert, denn: „Wir kennen unser Kind am besten. Es lohnt sich, zu entdecken, was aus diesen Menschen herauszuholen ist.“

Das Asperger-Syndrom bewegt sich im Grunde zwischen zwei extremen Positionen: Einerseits können die Betroffenen sehr sensibel sein, ein gutes Gespür für andere haben und können diese Emotionen aber nicht einordnen. Andererseits können sie weder über Gespür noch Intuition verfügen. Dazwischen gibt es eine große Bandbreite.

„Sie sind sehr verstandorientiert und verstehen zum Beispiel wirklich nicht, wenn jemand leidet“, sagt die Psychologin Carolin Steidl, die sich seit Jahren mit dem Asperger-Syndrom beschäftigt. Im Erwachsenenalter fallen diese Unterschiede zunehmend weniger auf. „Da hat man bereits erlernt, viele Eigenheiten des Alltags zu erkennen.“

Genaue Zahlen über Betroffene des Asperger-Syndroms gibt es in Österreich nicht. „Das gesamte autistische Spektrum betrifft etwa 0,6 bis 1,16 Prozent der Bevölkerung. Das Asperger-Syndrom ist nur ein ganz kleiner Teil davon“, fasst Steidl zusammen.

Die Hintergründe dieser psychischen Störung sind aber noch immer nicht vollständig geklärt. „Es gibt die Theorie, dass es sich um eine Extremvariante des männlichen Gehirns handelt.“ Tatsächlich sind Buben gegenüber Mädchen im Verhältnis 8:1 betroffen. Die Hauptursache dürfte in den Genen liegen, fanden Forscher erst vor einigen Jahren heraus. „Es wurden vier bis zehn Erbanlagen identifiziert, die solche Rückschlüsse zulassen“, erklärt Steidl. Als eine weitere Theorie wird zu viel Testosteron in der Schwangerschaft vermutet.

Das Asperger-Syndrom wurde 1944 erstmals von dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger (1906 bis 1980) beschrieben. Da er seine Arbeiten auf Deutsch verfasste, waren sie lange wenig bekannt. Erst in den 1990er-Jahren erlangten sie internationale Bekanntheit.

Ein spielsüchtiger junger Mann hält ein Rennpferd auf seinem Balkon und ein Bub mit Asperger-Syndrom hilft ihm, ein neues Zuhause für das Pferd zu suchen: Der empfehlenswerte österreichische Kinderfilm „Das Pferd auf dem Balkon“ läuft noch in einigen heimischen Kinos.