Misshandlungen verändern die Gene
Von Ingrid Teufl
Es liegen oft Jahrzehnte zwischen Misshandlung oder Vernachlässigung in der Kindheit und körperlichen Beschwerden wie Herz-Kreislauferkrankungen des späteren Erwachsenen. Die damals geschlagenen Wunden haben aber ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur in der Kinderseele, sondern sogar in den Genen. Epigenetiker entschlüsseln immer mehr dieser Zusammenhänge.
Etwa 22.500 Gene besitzt ein Mensch. Welche verwendet werden, entscheidet die Epigenetik mit. „Dass sich frühere Erlebnisse auf diese Verwendung der Gene auswirkt, wissen wir schon länger“, sagt der Wiener Humangenetiker Univ.-Prof. Markus Hengstschläger.
„Erst seit Kurzem aber ist bekannt: Diese Prägung hält so lange an, dass es im späteren Leben zu Krankheiten kommen kann. Jeder Prozess, der auf uns wirkt, ändert also die Verwendung unserer genetischen Rezeptoren. Es ist für mich nicht überraschend, dass sich einschneidende Erlebnisse in der Kindheit so auswirken können.“ Das sieht auch die Kinderpsychiaterin Univ.-Prof. Brigitte Hackenberg, MedUni Wien, so. „Psychische Traumata können zu Veränderungen führen, die gravierende Auswirkungen auf der körperlichen Ebene haben. “ Aber: „Nicht jedes erlittene Trauma wirkt sich direkt auf die nächste Generation aus.“
Anteil an den genetischen Veränderungen haben das Stresshormon Cortisol und Botenstoffe. Hält die Belastung an, bleibt der Cortisolspiegel unkontrolliert hoch – Stoffwechsel und Immunsystem kommen durcheinander. Studien deuten darauf hin, dass Stress die Genregulation dauerhaft verändern kann. Bestimmte Nervenzellen regenerieren sich offenbar nicht mehr.
Welchen Anteil haben aber Genetik und Umwelt wirklich? Studien mit eineiigen Zwillingen liefern erstaunliche Ergebnisse. Sie unterscheiden sich in ihrer Gensequenz nicht, sehr wohl aber in ihrer Genaktivität. Aktuell kamen australische Forscher zum Schluss, dass bei eineiigen Zwillingen direkt nach der Geburt unterschiedliche Gene aktiv waren, berichtet Spiegel Online. „Ein Zwilling muss also im Mutterleib anderen Einflüssen ausgesetzt gewesen sein als der andere“, schreiben die Autoren im Magazin Genome Research.
Im Mutterleib
Die Bedeutung der pränatalen Prägung zeigt sich auch in anderen Untersuchungen. Genetiker Univ.-Prof. Erwin Petek, MedUni Graz: „Wir wissen, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft misshandelt wurden, eher ängstlich und weniger neugierig sind. Sie stellen sich offenbar schon im Mutterleib auf ein schwieriges Umfeld ein.“
Die in den Genen festgeschriebene Prägung soll für die Behandlung von Krankheiten genutzt werden. „Es ist ein spannender Ansatz, Biografie und Genetik zusammenzuführen“, sagt Petek. Für therapeutische Interventionen sei es noch zu früh. „Wir wissen die genauen Zusammenhänge noch nicht.“ Wichtig sei, die Menschen nicht zu verunsichern „Jeder von uns ist in einer Risikogruppe. Aber unser Verhalten spielt bei Krankheiten auch eine wichtige Rolle.“
Die Möwe: Online-Beratung für Internetkids
Die Möglichkeiten des Internets als eine Chance nutzen – das will der Verein „die möwe -Kinderschutzzentren" mit seiner neuen Online-Beratung. Der Verein setzt sich besonders für Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebensphasen ein. Missbrauch und Misshandlungen sind noch immer ein gesellschaftliches Tabu. Aus Scham oder Angst verschweigen die Betroffenen oft ihr Martyrium.
Kinder und Jugendliche, aber auch ihre Bezugspersonen, sollen auf der neuen Plattform einen niederschwelligen – und anonymen – Zugang zu professioneller Beratung erhalten. Damit will man auf veränderte Bedürfnisse und Kommunikationsgewohnheiten eingehen. Immerhin nutzen bereits 75 Prozent der Acht- bis Neunjährigen dieses Medium. In einem Pilotprojekt kam die Online-Beratung so gut an, dass sie nun zu einer ständigen Einrichtung wird. Die Online-Beratung soll eine eigenständige Beratungsform sein, für die ein spezielles Webtool entwickelt wurde.
Info: Junges Forschungsgebiet
Begriff Das Wort Epigenetik setzt sich aus „epi" (griech. für zusätzlich) und „genia" (griech. für Abstammung, Ursprung) zusammen. Es wurde schon im 19. Jahrhundert gebraucht, wird jedoch Conrad Hal Waddington zugeschrieben, der es 1942 erstmals verwendet haben soll. Heute definiert sich die Epigenetik als „Studium der erblichen Veränderungen in der Genomfunktion, die ohne eine Änderung der DNA-Sequenz auftreten".
Genom Darunter versteht man die Gesamtheit aller vererbbaren Informationen eines Menschen – sein Erbgut – in einer Zelle. Dazu gehören Gene, Chromosomen und die DNA (Desoxiribonukleinsäure). 2001 wurde das menschliche Genom offiziell entschlüsselt.