Historiker Philipp Blom: "Jeder drängt in die Opferrolle“
Er fordert nichts anderes als eine neue Aufklärung. Und er hat eine Antwort auf die Frage, warum die Rechtspopulisten derzeit so beliebt sind. Ein Gespräch mit dem Historiker und Philosoph Philipp Blom.
KURIER: Das Video mit Heinz Christian Strache bewegt Österreich. Viele FPÖ-Anhänger stehen aber weiter zu ihm. Warum?
Philipp Blom: Viele Anhänger distanzieren sich tatsächlich – die Leute sind ja nicht dumm. Wenn man aber so viel Angst hat, dass man bereit ist, jede Verschwörungstheorie zu glauben, dann ist so ein Video eher die Bestätigung der eigenen Paranoia. Das können Politiker dann ausnutzen.
Wie kann man enttäuschte Wähler zurückgewinnen?
Das hängt leider nicht nur von guten Programmen ab, sondern auch von überzeugenden Persönlichkeiten. Erst in so einer Situation zeigt sich, wer wirklich die Fähigkeit hat, den Moment zu nutzen und vielleicht sogar positiv zu wirken. Alexander van der Bellen ist so ein Beispiel.
Der Philosoph Jürgen Habermas meinte, dass man Rechtspopulisten nicht inhaltlich begegnen soll, sondern sie als Wegbegleiter des Faschismus brandmarken. Soll man mit Rechten also nicht diskutieren?
Es gibt ein Niveau, auf dem man nicht diskutieren kann und auch nicht sollte. Etwa dann, wenn eine Partei den Klimawandel leugnet, und Persönlichkeiten in die Öffentlichkeit schiebt, die diese These festigen. Wenn Menschen sich Fakten verweigern, hat es keinen Sinn, mit ihnen eine politische Diskussion zu führen.
Das Interessante: Es schadet Populisten nicht, wenn sie keine Konzepte haben, etwa für das Pensionssystem.
Sie spielen das ewige Spiel der Opposition und der Opfer. Die Opferrolle ist in unserer Kultur die mächtigste geworden – in die möchten sich alle hineinmogeln. Das gilt besonders bei Rechtspopulisten, weshalb sie Israel entdeckt haben: Beide sehen sich als Opfer eines radikalen Islam. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lebt einen ethnischen Nationalstaat vor und hat den ultimativen Opferstatus – das ist eine ganz gefährliche Kombination. Das Schöne am Opferstatus ist: Man ist moralisch nicht verantwortlich und kann extrem handeln. Doch aus dieser Opferrolle hinaus zu kommen, ist Voraussetzung für eine vernünftige Diskussion.
Intellektuelle stehen fassungslos vor dem Phänomen. Da Populisten in der realen Welt eine große Rolle spielen, können sie uns die Welt nicht mehr erklären.
Ich glaube, da gibt es eine andere Dynamik. Sicher, ein linksliberales Establishment hat sich ein bisschen dumm gesiegt. Es hatte in vielen Medien und in der Kulturlandschaft eine dominante Rolle – besonders nach den Erfahrungen mit dem Faschismus. Es gab eine Selbstzufriedenheit, weil man wusste, dass man auf der Seite des Rechts steht. Vor relativ kurzer Zeit hat sich gezeigt, dass die Rechtsaußen nicht blöd sind. Sie haben zugeschaut und gelernt, wie Revolutions- und Identitätspolitik aussieht – und wie man sich den Opferstatus erarbeitet.
Und wie man Begriffe festlegt.
Richtig. Sie haben der linken Politik die Waffen aus der Hand geschlagen. Jetzt sind linke und liberale Intellektuelle fassungslos und sagen: Wie können die das wagen? Das ist doch unser Instrumentarium. Darauf haben wir keine Antwort gefunden.
Wo es Antworten gibt, nutzen sie nichts, weil die Bedeutung von Journalismus abnimmt: Information erhalten wir über Algorithmen. Recherchieren und Diskussionen zu entfachen wird schwieriger. Menschen wird zugespielt, was sie schon glauben.
Ja – Algorithmen können schon jetzt gute und witzige Artikel schreiben. Die Menschen haben allerdings schon immer ideologisch gefärbte Medien konsumiert.
Was hat sich geändert?
Soziale Medien sind von Psychologen designt, um direkt zu unserem Echsenhirn zu sprechen. Das ist eine viel stärkere Droge und hat eine stärkere Wirkung als eine gedruckte Zeitung. Außerdem: In der sozialistischen Revolution war Bildung etwas Entscheidendes. Sie war eine Waffe der Arbeiterklasse, um sich Gleichheit zu erkämpfen. Das ist sie heute nicht mehr.
Es ist also ein Versagen der Sozialdemokratie.
Es ist auch der Tatsache geschuldet, dass gewisse Ziele erreicht wurden. Bildung ist heute kein Wert an sich mehr, sondern ein Luxus für ein paar konservative Bürger, die ins Burgtheater gehen. Das ist eine Tragödie. Denn Bildung gibt einem – hoffentlich – die Mittel, die Welt besser zu verstehen: zum Beispiel, welche Geschichten bestimmte politische Ideen haben, wozu sie führen können oder geführt haben. Man kann zudem einschätzen, was realistisch ist und was nicht. Ich bin erstaunt über die Schwemme von Verschwörungstheorien, die aus Mündern relativ rationaler Menschen kommen. Natürlich ist es einfacher zu fühlen, als zu denken. Denken ist lästig – deshalb muss es kultiviert werden.
Deshalb brauchen wir eine neue Aufklärung.
Ja. Man kann jetzt den großen kulturellen Wurf machen. Etwa im Kontext der Klimakatastrophe begreifen, dass der Mensch keine besondere Kreatur ist, die über die Schöpfung erhaben ist, sondern ein Organismus, der weniger wichtig ist als Plankton. Aus eigenem Interesse muss er sehen, dass er Teil dieses Ökosystems bleibt. Das wäre für mich eine neue Aufklärung: eine eigene Rolle auf der Welt zu definieren. Die brauchen wir, um uns selbstkritisch gegenüber den derzeitig enorm galoppierenden Entwicklungen zu verhalten. Unser erster Reflex ist da ja meist: Bequemlichkeit und noch mehr soziale Medien zu konsumieren.
Philipp Blom wird am Mittwoch, 22. Mai, an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Weiters diskutieren: die Politkwissenschafterin Ulrike Guérot, der neoliberale Kolumnist Christian Ortner, der Präsident der Industriellenvereinigung Georg Kapsch sowie der Generalsekretär des Roten Kreuz Werner Kerschbaum. Moderieren wird die Veranstaltung KURIER-Herausgeber Helmut Brandstätter.
Beginn: 18.30 Uhr,
Ort: Haus der Industrie, Schwarzenbergplatz, Anmeldung erforderlich. eMail: uebermorgen@iv.at, Internet: https://übermorgen.at