Worunter Kinder, die in Armut leben, besonders leiden
Armutsbetroffene Kinder und Jugendliche erkranken häufiger und haben eine geringere Lebenserwartung. Das zeigt eine aktuelle Umfrage von Ärztekammer und Volkshilfe Österreich. Armut beeinflusst demnach von der Geburt bis zum Sterbebett.
Bereits zum zweiten Mal wurden Ärztinnen und Ärzte um ihre professionelle Einschätzung von Kinderarmut und Kindergesundheit in Österreich vor dem Hintergrund ihrer tagtäglichen Praxis gebeten. Nach der ersten Umfrage aus dem Jahr 2019 wurde diesmal auch der Einfluss von Corona miteinbezogen. Auch der Frage, wie stark bereits Säuglinge und Kleinkinder gesundheitlich betroffen sind, wurde in der Umfrage nachgegangen. Teilgenommen haben 448 Ärztinnen und Ärzte aus sechs Bundesländern.
350.000 Heranwachsende zumindest armutsgefährdet
Für den Präsident der Österreichischen Ärztekammer, Thomas Szekeres, ist es ein erschreckendes Zeichen, dass fast ein Fünftel der österreichischen Bevölkerung armuts- und/oder ausgrenzungsgefährdet ist. Darunter fallen fast 350.000 Kinder und Jugendliche. „Österreich ist eines der reichsten Länder der Welt im Herzen Europas. Armut ist in Österreich aber nach wie vor ein Thema, und es wird weitgehend tabuisiert und beschäftigt die Öffentlichkeit bestenfalls in der Adventzeit.“ Dabei werde aber vergessen: „Wer bei Kindern spart, spart an der Zukunft. Denn Kinder, die in Armut leben, erkranken öfter, zeigen vermehrt Entwicklungsstörungen, erkranken häufiger psychisch, sind stärker suizidgefährdet und sterben um fünf bis acht Jahre früher als die Durchschnittsbevölkerung. Sie sind die chronisch Kranken von morgen.“
Corona verschlechtert Lage zusätzlich
Gerade auch die Corona-Pandemie habe die Situation von Armutsbetroffenen noch weiter verschärft: „Die Zahl von psychisch bedingten Erkrankungen, insbesonders bei Kindern und Jugendlichen, ist in die Höhe geschnellt, das Betreuungsangebot im Gegenzug aber nicht. Es ist höchste Zeit, hier effektiv gegenzusteuern.“
Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich, ergänzt dazu: „Ein Leben in Armut schädigt die physische und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Das ist wissenschaftlich vielfach bestätigt und keine Neuigkeit. In unserer gemeinsamen Umfrage wollten wir daher genauer beleuchten, wie vielfältig diese Schädigungen sein können und wie früh sie beginnen können. Die Ergebnisse sind alarmierend und zeigen großen Handlungsbedarf.“
Schimmel, Kälte, Mobbin, Stress machen krank
Als häufigste Ursache für die gesundheitliche Ungleichheit wird von den befragten Ärztinnen und Ärzten der strukturelle Mangel von gesundheitsfördernden Lebensumständen benannt. 82 Prozent sagen, Kinder sind aufgrund der psychosomatischen Folgen der Armutslage - etwa schlechte Wohnverhältnisse, wie Schimmel oder Kälte, aber auch Mobbing und Stress - häufiger krank. Bei den Kinderärzten nennen gar 89 Prozent diese Ursache. Der permanente existentielle Stress, den armutsbetroffene Kinder und Jugendliche tagtäglich erleben, schädigt also nach Einschätzung der Befragten massiv die Gesundheit der Kinder.
Ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel
Auf Platz zwei und drei der Ursachen für häufigere Krankheit werden „Hohe Kosten für gesunde Ernährung“ (54 Prozent) und „Fehlende bewegungs-/entwicklungsfördernde Angebote im Kleinkindalter“ (53 Prozent) genannt. In etwa ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte nennt weiters Diskriminierungserfahrungen als Grund für die häufigeren Erkrankungen. Diese Einschätzung teilen vor allem Kinder- und Jugendpsychiater (27 Prozent), die mehr Zeit für Gespräche mit ihren Patientinnen und Patienten haben als andere Fachrichtungen.
Psychosomatische Belastungen
Die Frage, ob in der beruflichen Praxis bei Kindern aus armutsgefährdeten Familien vermehrt psychosomatische Belastungen beobachtet werden, bejahen drei Viertel der Befragten (41 Prozent „häufig“, 37 Prozent „manchmal“). Die Gruppe der Kinderärzte, die an der Umfrage teilnahm, bestätigt dies mit 90 Prozent noch einmal deutlich stärker (62 Prozent „häufig“, 28 Prozent „manchmal“).
Zwei Drittel (66 Prozent) sagen, dass armutsbetroffene Kinder stärker von Bewegungsmangel durch die Corona-Krise betroffen sind, wobei die Zahlen für Wien (82 Prozent) besonders hoch sind. Bei den Kinderärzten geben das österreichweit 82 Prozent an, bei den Wiener Kinderärzten sind es sogar 90 Prozent.
85 Prozent der befragten Medizinerinnen und Mediziner gaben an, dass armutsbetroffene Kinder in ihrer Wahrnehmung in der Corona-Krise stärker psychisch belastet wurden als Kinder aus finanziell gut abgesicherten Familien. Bei Kinderärzten sowie Kinder- und Jugendpsychiatern sind es sogar 91 Prozent, die diese Einschätzung teilen.
Geforderte Maßnahmen zur Verbesserung der Lage
Als wichtigste Maßnahmen um den Gesundheitszustand armutsbetroffener Kinder abzusichern, nannten die Befragten: ausreichend kostenlose Therapieplätze für Kinder bei medizinischer Indikation (66 Prozent), kostenfreie Maßnahmen zur Mund-, und Zahngesundheit für alle unter 18 Jahren (61 Prozent), die rasche Erweiterung der Krankenkassenplätze für Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen (54 Prozent) sowie die Reform beziehungsweise der Ausbau der Kassenverträge im Bereich der Kinder- und Jugendheilkunde. Aber auch den Ausbau der Gesundheitsbetreuung an Schulen nennt eine knappe Mehrheit (50 Prozent) als besonders wichtige Maßnahme. 76 Prozent der Befragten sagen zudem, dass es eine starke finanzielle Absicherung von Kindern und Jugendlichen braucht, um gesundheitliche Ungleichheit auszugleichen.