Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein: Liegt Achtsamkeit in den Genen?
Sie wird seit einigen Jahren als Schlüssel für mehr Wohlbefinden gepriesen: Achtsamkeit. Unter achtsamem Sein versteht man einen Zustand, in dem der gegenwärtige Moment bewusst wahrgenommen wird. Dieser Fokus auf das Hier und Jetzt beinhaltet das Erspüren eigener Gefühle, Gedanken und der Umgebung – allerdings ohne sie dabei zu bewerten. Man lenkt die Aufmerksamkeit auf den Augenblick und übt sich darin, gedanklich nicht abzuschweifen.
Viele Fachleute ordnen Achtsamkeit als Fähigkeit ein, die trainiert werden muss. Ein geübter "Achtsamkeitsmuskel" soll wiederum mit einer verbesserten Lebensqualität und einem niedrigeren Stresslevel verbunden sein.
Zwillingsstudie, um genetischen Anteil bei Achtsamkeit zu klären
Forschende der US-amerikanischen Carnegie Mellon University berichten nun im Fachblatt Scientific Reports allerdings, dass die Fähigkeit, achtsam zu sein, auch eine Grundlageim Erbgut haben könnte. "Ich und viele andere interessieren sich schon lange dafür, wie sich Achtsamkeit unter normalen Umständen, also außerhalb eines formalen Trainings, entwickelt", wird Studienautor und Psychologe Kirk Warren Brown von PsyPost zu den Hintergründen der neuen Studie zitiert.
Macht uns Achtsamkeit also wirklich zufriedener? Und warum fällt es manchen leichter, präsent zu sein?
Um diesen Fragen nachzuspüren, griffen die Forschenden um Brown auf die Twins Early Development Study (TEDS) zurück. Sie enthält Daten von über 10.000 in England und Wales geborenen Zwillingspaaren. Die Fachleute konzentrierten sich auf eine Kohorte von Zwillingen, die zwischen 1994 und 1996 geboren wurden. Die Daten wurden im Jahr 2011 erhoben, als die Teilnehmenden rund 16 Jahre alt waren.
In die Stichprobe gingen über 1.000 eineiige und zweieiige Zwillingspaare ein, also Zwillingskinder, die genetisch ident sind, und Zwillinge, die im Schnitt nur etwa 50 Prozent ihres Erbguts teilen. Solche Zwillingsstudien ermöglichen es, Einflüsse von Genetik und Umwelt auf die Entwicklung des Menschen zu beobachten.
Bei den Teilnehmenden wurden mit verschiedenen Tests die Präsenz-Fähigkeit sowie die Lebenszufriedenheit gemessen. Es zeigte sich, dass Jugendliche, die über ein höheres Maß an Präsenz berichten, tendenziell auch ein höheres Maß an Lebenszufriedenheit aufweisen.
Sowohl die Achtsamkeit als auch das subjektive Wohlbefinden wurden durch genetische Faktoren beeinflusst: Die Zwillingsanalysen zeigten, dass der Zusammenhang für Präsenz und Lebenszufriedenheit bei eineiigen Zwillingen höher waren als bei zweieiigen Zwillingen, was auf einen erheblichen genetischen Beitrag hindeutet.
Besonders interessant: Brown und sein Team fanden auch genetische Überschneidungen zwischen Präsenzfähigkeit und Lebenszufriedenheit. Dies deute darauf hin, dass genetische Faktoren, die unsere Fähigkeit, uns auf die Gegenwart zu konzentrieren, steuern, auch zu unserer allgemeinen Zufriedenheit beitragen. "Wir haben herausgefunden, dass die Fähigkeit, präsent zu sein, bis zu einem gewissen Grad genetisch bedingt ist, und dass Präsenz und Wohlbefinden zum Teil deshalb miteinander verbunden sind, weil sie einen gemeinsamen genetischen Ursprung haben", so Brown.
Auch die Umwelt wirkt mit
Während der sozioökonomische Status der Familie oder der elterliche Erziehungsstil nur geringen Einfluss auf den Hang zur Achtsamkeit und die Lebenszufriedenheit hatten, bestimmten andere Umweltfaktoren wie Freunde, Lehrer oder außerschulische Aktivitäten die Merkmale messbar mit.
"Die Fähigkeit, präsent zu sein, ist zum Teil genetisch bedingt und zum Teil durch Umwelteinflüsse, wie etwa auch das Training in Achtsamkeitsmeditation, bedingt", summiert Brown. Die genetische Basis helfe zu erklären, "warum Präsenz das Wohlbefinden zu fördern scheint".
Eingeschränkt wird die Aussagekraft der Ergebnisse dadurch, dass die erhobenen Daten auf Selbstauskünften beruhen. "Diese Studie basiert auf einer größtenteils weißen Stichprobe von 16-Jährigen mit Wohnsitz im Vereinigten Königreich, sodass wir keine Verallgemeinerungen anstellen können", gibt Brown zu bedenken. Er will nun erforschen, welche neurobiologischen Mechanismen den genetischen Zusammenhängen zwischen Anwesenheit und Wohlbefinden zugrunde liegen.