Ischgler Antikörperstudie: Fast jeder Zweite hatte das Virus
Wie viele Menschen haben im Corona-bedingt bedauerlicherweise mittlerweile weltbekannten Tiroler Wintersportort Ischgl eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht? Mit dieser Frage befassen sich Expertinnen und Experten der Medizinischen Universität Innsbruck seit April.
Um ein genaueres Bild über die Durchseuchung und den Verlauf der Erkrankung bei den Bewohnern des Corona-Hotspots zu gewinnen, wurden rund 1.500 Bürgerinnen und Bürger auf spezifische, gegen das neuartige Virus gerichtete Antikörper getestet. Letztere bildet der menschliche Körper im Zuge einer Covid-19-Erkrankung, um das Virus abzuwehren.
Donnerstagvormittag wurden im Audimax der Medizinischen Universität Innsbruck erste Kernergebnisse der mit Spannung erwarteten Erhebung präsentiert.
42,4 Prozent haben Antikörper
Insgesamt seien exakt 1.473 Personen zwischen 21. bis 27. April untersucht worden, schickte Studienleiterin Dorothee von Laer, Leiterin des Instituts für Virologie an der Medizinischen Universität Innsbruck, voraus. "Das entspricht knapp 80 Prozent der gesamten Einwohner, wir hatten also eine enorm gute Beteiligung." Bei jedem der Teilnehmer wurde das Blut mehrmals auf Antikörper untersucht, per Rachenabstrich wurde die Person auf das Virus getestet. Mittels Fragebogen wurde zudem eine potenzielle Krankheitsgeschichte erhoben.
Das Ergebnis: "Es waren 42,4 Prozent der Bevölkerung in unserer Studie Antikörper-positiv. Dieser Prozentsatz hatte also Antikörper gegen das neue Coronavirus im Blut. Das ist der höchste bisher publizierte Anteil an Antikörper-positiven Personen in einer Region", sagte von Laer. "Das heißt natürlich nicht, dass es an anderen Orten der Welt nicht doch eine höhere Prävalenz herrscht, derartige Daten sind aber bisher nicht publiziert."
Von Laer weiter: "Wie die meisten wissen, war das Paznauntal mit seinen Ski-Zentren ein Hotspot und auch der Ausgangspunkt des SARS-CoV-2-Ausbruches in Österreich. Laut AGES waren Ende April 40 Prozent aller Infektionen in Österreich auf Ischgl zurückzuführen. Es lag also nahe, dass wir uns mit der Situation vor Ort in der Quarantäne befassen, also schauen, wie viele Einwohner wirklich betroffen sind."
Infektion unbemerkt durchgemacht
Laut der Spezialistin interessant: Von den Antikörper-positiven Personen wussten 85 Prozent nicht, dass sie sich mit dem Virus angesteckt hatten. Nur 15 Prozent der de facto Infizierten waren demnach zuvor bei PCR-Tests positiv getestet worden. Der Anteil der positiv auf Antikörper Getesteten liege damit rund sechs Mal höher, als die Zahl der zuvor mittels PCR-Test positiv getesteten Personen, erklärte die Studienleiterin. Für die Virologin ist das "durchaus überraschend, weil wir davon ausgegangen sind, dass aufgrund der starken Verbreitung des Virus in Ischgl doch intensiv getestet wurde".
Ein Corona-PCR-Test dient dem Nachweis einer akuten Covid-Infektion: In einem Rachenabstrich oder einer Gurgelflüssigkeit wird nach Virus-Erbgut gesucht und dieses vermehrt. In für die entsprechenden Verfahren geprüften Laboren werde das virale Erbgut in den Proben durch einen empfindlichen molekularen Test nachgewiesen.
Was bedeutet das nun? Zum einen bestätigt der hohe Prozentsatz, dass in Ischgl viele Menschen eine Corona-Infektion hatten. Zum anderen zeigt sich aber, dass man auch dort von einer Herdenimmunität (diese ist ab einer Durchseuchungsrate von 60 bis 70 Prozent gegeben) weit entfernt ist. Die Bevölkerung des Wintersportorts dürfte aber zumindest zu einem Gutteil geschützt sein, hieß es.
Die Konzentration der Antikörper sei zum Teil sehr hoch gewesen. "Man muss nach menschlichem Ermessen davon ausgehen, dass, wenn Antikörper vorhanden sind, auch eine Immunität vorliegt", meinte von Laer. Inwieweit und vor allem wie lange die Antikörper den Menschen Immunität verleihen, sei derzeit noch unklar. "Das könnte in weiteren Studien mit der Ischgl-Kohorte aber erhoben werden."
Geringere Antikörperrate bei Kindern
Unter den 1.473 untersuchten Personen waren auch 214 Kinder: "Wir hatten daher auch eine große Kinder-Gruppe, die wir analysieren konnten." Hier hätten nur etwa 27 Prozent Antikörper gebildet. "Die Kinder waren also weniger betroffen, die Altersgruppe zwischen 18 und 60 hingegen am stärksten." Männer waren etwas häufiger betroffen als Frauen: "Das steht in Einklang mit bisherigen Studien zu Geschlechterunterschieden bei Covid-19", schildert von Laer, "unsere Ergebnisse dazu waren aber nicht signifikant".
Virus wohl bereits im Februar in Umlauf
Und wann ist das Virus in Ischgl zum ersten Mal aufgetaucht? Dazu bleibt von Laer vage: "Wir haben weder den Patienten null gefunden, noch hatten wir PCR-Tests von vor dem 5. März zur Verfügung. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass das Virus schon in der zweiten Februarhälfte zirkuliert ist. Um das zu beweisen, bräuchten wir aber PCR-Tests aus diesem Zeitraum."
Walter Wolfgang Fleischhacker, Rektor der Medizinischen Universität Innsbruck, nannte die Ischgl-Erhebung im Zuge der Präsentation jedenfalls "eine Leuchtturmstudie": "Und zwar insofern, als zum ersten Mal eine stark betroffene Gemeinde untersucht wurde. Noch dazu unter besonderen Bedingungen: Zum Zeitpunkt der Studie stand Ischgl noch unter Quarantäne."
Die gewonnenen Erkenntnisse sollen dazu dienen, in Zukunft weitere Studien zu designen, "sie können aber auch als Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen fungieren".
Positive Reaktionen
Die Rückmeldungen der Ischgler auf die Studie waren für von Laer bereits zu Beginn der Erhebung überwältigend. "Die positiven Reaktionen der Bevölkerung, die auch selbst von der Epidemie sehr betroffen ist, und die vielen Helferinnen sowie Helfer vor Ort und von unserer Universität haben dazu beigetragen, dass wir sehr gute Rahmenbedingungen für die Durchführung hatten."
Jeder, der durch seine Teilnahme oder durch die Unterstützung der Durchführung einen Beitrag geleistet habe, unterstütze damit, dass "wir verlässliche, neue medizinische Forschungsergebnisse zu SARS-CoV-2 erhalten".