Geschichte: Ärzte unter dem Hakenkreuz
Nein, ausradieren würde Herwig Czech den Begriff „Asperger-Syndrom“ nicht. Auch wenn der Medizinhistoriker wenig Schmeichelndes über den Wiener Kinderarzt herausgefunden hat, nach dem eine bestimmte Form des Autismus benannt wurde.
Bisher wurde Hans Asperger als jemand betrachtet, der eine gewisse Distanz zum NS-Regime und dessen Gedankengut hatte. Nachdem Historiker Hunderte Patientenakten und Dokumente gesichtet haben, ergibt sich ein differenziertes Bild.
Bekannt
Bisher war bekannt, dass Hans Asperger (1906-1980) als Kinderarzt ab 1935 die heilpädagogische Abteilung die Kinderklinik der Uni Wien leitete. Nach dem Krieg arbeitete er in Innsbruck, 1962 wurde er Professor für Pädiatrie in Wien. Seine im Jahr 1944 veröffentliche Arbeit beschrieb erstmals das nach ihm benannte Syndrom: Unter dem Asperger-Syndrom wird eine Kontakt- und Kommunikationsstörung verstanden, die zu den tief greifenden Entwicklungsstörungen gerechnet wird. Betroffene haben Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion und Kommunikation. In Spezialgebieten können sie zum Teil überdurchschnittlich begabt sein.
Unbekannt
Nun belegen Nachforschungen, dass Asperger darüber hinaus aktiv mit dem NS-Euthanasieprogramm kooperiert hat. So wurden auf Grund von Aspergers Diagnose zwei Mädchen in die berüchtigte Wiener Euthanasieanstalt „Am Spiegelgrund“ eingewiesen, in der 7500 Kinder getötet wurden. „Asperger hat seine Patienten oft weitaus härter beurteilt als seine Kollegen“, sagt Czech. Auf seine Empfehlung wurden viele Kinder ihren Eltern entzogen und in Heime gesteckt.
Rolle
Der Arzt war zudem eine Schlüsselfigur der „Heilpädagogik österreichischer Prägung“. Diese wurde in der heilpädagogischen Station der Uni-Kinderklinik angewendet, die er seit 1935 leitete. „Diese Pädagogik war eine Mischung aus psychiatrischen, psychologischen und pädiatrischen Ansätzen und fühlte sich für die Betreuung ,psychisch abnormer Kinder‘ zuständig.“ Problematisch sieht Czech das Menschenbild, das dahinter steckte: „Asperger ging davon aus, dass Menschen von Geburt an dazu bestimmt sind, eine Rolle zu spielen, etwa Prostituierte oder Missbrauchsopfer zu werden.“ Das solle man im Hinterkopf behalten, wenn man den Namen Asperger als medizinischen Begriff zukünftig weiterverwenden möchte.
Englischer Begriff
Warum hat man die Biografie eines Mannes, der in der NS-Zeit gearbeitet hat, bisher nicht untersucht? Und warum wurde in den 1980er-Jahren noch ein Syndrom nach ihm benannt? Czech: „Es waren englischsprachige Wissenschaftler, die den Begriff prägten. Für sie war Asperger ein Katholik und daher über den Verdacht von NS-Verstrickungen erhaben. Und so einfach wären die Forscher auch nicht an die Akten über ihn herangekommen.“
Asperger war ja nie Mitglied bei der Partei, sondern „nur“ in NS-nahen Organisationen. Ganz im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen: „Ärzte waren in Österreich die Berufsgruppe mit dem höchsten Anteil an Parteimitgliedern“, weiß Czech: „In Wien war jeder zweite Mediziner ein Nazi und in der Steiermark sogar 90 Prozent.“
Kein Einzelfall
Ein bekannter Falls ist der des Anatomen Eduard Pernkopf, der Dekan und später Rektor des Anatomischen Instituts in Wien wurde. Für seinen heute noch weltbekannten Anatomie-Atlas griff das SA-Mitglied auf die Leichen von NS-Opfern zurück.
Ein Grund für den hohen Anteil an Nazis unter den Ärzten ist, dass es in der Berufsgruppe noch Anfang der 1930er-Jahre besonders viele Juden gab. „Es folgte ein regelrechter Kahlschlag“, so Czech. Besonders die Kinderheilkunde, die Psychiatrie sowie Neurologie waren betroffen. Einige Zahlen verdeutlichen den Aderlass: Ca. 4200 Mediziner wurden nach dem „Anschluss“ 1938 verfolgt. 177 von 321 Angehörigen des Lehrpersonals der medizinischen Fakultät wurden aus rassistischen Gründen entlassen.
Entjudung
Historiker wissen, dass die österreichischen NS-Machthaber viel radikaler und schneller als die Nazis in Deutschland waren: Mit 1. Oktober 1938 wurde bereits die „Entjudung der österreichischen Ärzteschaft“ verkündet. Czech: „50 Prozent der Professoren wurden damals ersetzt, 1000 Studenten vertrieben.“ Das blieb nicht ohne Auswirkungen: „Das Vorlesungsverzeichnis wurde bedeutend kürzer“, sagt Christiane Druml, Direktorin des Josephinum, Institut für Geschichte der Medizin der MedUni Wien. Die Folgen insgesamt waren katastrophal. Czech: „Es kam zu einer Zerstörung des Gesundheitswesens und zu einem Anstieg der Todesfälle.“
Tipp: Ausstellung
„Die Wiener Medizinische Fakultät 1938 bis 1945“ läuft noch bis 6. Oktober 2018. Ort: Josephinum, 1090 Wien, Währinger Straße 25.