Wirtschaft

Schlaue Roboter fressen Jobs – aber nicht alle

KURIER: Werden wir weiterhin den 1. Mai feiern oder marschieren künftig nur die Roboter?

Wilfried Sihn: Den Tag der Arbeit werden immer Menschen feiern. Aber die Welt verändert sich. Ein Beispiel: Bisher waren Roboter dumme, auf eine Aufgabe dressierte Systeme. Intelligente Roboter arbeiten mit dem Menschen Seite an Seite beim Montieren und Schrauben. Ein höherer Automatisierungsgrad – das ja. Aber ohne Menschen? Never.

Tenor aller Studien ist aber, dass niedrig qualifizierte Jobs ersetzbar werden.

Sihn: Die Ungelernten sind gefährdet. Aber alle Studien zeigen, dass letztlich mehr Arbeitsplätze entstehen. Das Dumme ist: Wir werden durch Industrie 4.0 erst Arbeitsplätze verlieren, bevor wir neue gewinnen.

Harald Mahrer: Jährlich fallen 10.000 junge Menschen ohne Bildungsabschluss aus dem System. Damit produzieren wir Arbeitslose. Das müssen wir ändern.

Sihn: Vom Kindergarten bis zu den Unis müssen wir hinterfragen, ob unser Bildungssystem noch richtig ist. Ja, wir brauchen Maschinenbauer, Elektrotechniker und Wirtschaftsingenieure, aber eben auch Studiengänge, wo einer von alldem und obendrein noch etwas von Sensorik und Informatik versteht.

Am Massachusetts Institute of Technology arbeiten Kreative, Wirtschafter und Techniker zusammen. Warum nicht auch bei uns?

Mahrer: Wir denken zu wenig vernetzt. Im Schulsystem werden Kreativität und Innovation eher abtrainiert als gefördert. Und unsere Lehrlingsausbildung ist europaweit auf hohem Niveau, aber hält sie dem Elchtest für Industrie 4.0 stand? Da bin ich mir nicht sicher. Wir brauchen künftig Generalisten, die flexibel sind für neue Aufgabenprofile. Statt am 1. Mai mit Fahnen zu winken und die Vergangenheit zu feiern, wäre es besser nachzudenken, was Arbeit in Zukunft heißt. Da gibt es andere Modelle als Wertschöpfungsabgabe und sechste Urlaubswoche.

Was halten Sie von einer Wertschöpfungsabgabe?

Sihn: Nichts. Da sind wir uns einig.

Mahrer: Das ist Retropolitik. Außerdem ist die Debatte auf die bevorstehenden Wahlen zurückzuführen und daher nicht ernst zu nehmen. Wir erleben einen Strukturwandel. In einigen Bereichen werden Menschen durch Automation unterstützt oder ersetzt. Gleichzeitig wird die Bevölkerung dramatisch älter, und es wird nicht lauter Pflegeroboter geben. Auch in der Weiterbildung entstehen Jobs. Aber das sind natürlich keine minderqualifizierten Berufsprofile Die Herausforderung wird sein, niedrig Qualifizierte auf höheres Niveau zu bringen.

Gut 50 Prozent aller Berufe sind angeblich künftig durch Computer und Automaten ersetzbar. Glauben Sie das?

Sihn: Nein. Weil es nicht ums Ersetzen, sondern ums Verbessern geht. Als Europas beste Fabrik wurde jene von Siemens in Amberg ausgezeichnet, wo Steuerungen hergestellt werden. Höchstes Ziel ist eine Rate von maximal 11,5 Fehlern pro eine Million produzierter Stück. Ein guter Arbeiter hat eine Fehlerrate von 500. Deshalb wurde die komplette Logistik automatisiert. Es gibt mehr Arbeiter als vorher, aber niemanden, der noch etwas herumträgt.

In Summe werden es wohl trotzdem weniger sein.

Sihn: Nein, es sind mehr Mitarbeiter, weil die Rationalisierung Markterfolge und mehr Umsatz gebracht hat.

Welche Branchen-Unterschiede sehen Sie?

Sihn: Speziell im Automobilbereich ist in den letzten 30 Jahren Unglaubliches abgegangen. Die Banker hingegen sind bequem in ihren Ledersesseln gesessen. Nach 100 Jahren auf der Insel der Seligen erkennen Sie erst jetzt, dass es so nicht weitergeht.

Wie steht Österreich im internationalen Vergleich da?

Mahrer: Theoretisch sind wir gut aufgestellt. Wären unsere Betriebe nicht so innovativ, hätten sie nicht so große Exporterfolge – trotz hoher Steuern und Bürokratie. Aber wir brauchen einen digitalen EU-Binnenmarkt. Jetzt haben wir 28 Teilmärkte mit unterschiedlichen Regeln, deshalb gehen Start-ups lieber in die USA, nach Singapur, Hongkong oder Kanada.

Sihn: Wir haben in Österreich die Chance, Weltspitze zu werden, wenn wir den deutschen Fehler vermeiden. Dort haben alle an einem Strang gezogen – aber nicht in dieselbe Richtung. Damit sind zwei Jahre Vorsprung weg, das kommt Österreich zugute.

Und da sind Sie bei unserer Großen Koalition im Ernst guter Dinge?

Mahrer: Bei diesem Thema orte ich keine großen Streitereien. Manche schlafen noch in der Pendeluhr und müssen erst verstehen, dass das eine zentrale Herausforderung ist.

Europa war in technischen Belangen den USA lange voraus. Doch in Sachen Digitalisierung ist Amerika uneinholbar, oder?

Sihn: Da sind Sie in die Falle getappt! Es geht nicht nur um Digitalisierung. Ich behaupte, dass wir in drei bis vier Jahren maximal eine Kassiererin pro Supermarkt haben. Und zwar für Kunden, die kein Bankkonto haben. Der Werbeslogan wird sein: "Liebe Diebe, kommt zu uns!" Sie können nämlich klauen, was Sie wollen – am Ausgang bucht ein Scanner in einer Zehntelsekunde alle Waren von Ihrem Konto ab, selbst mit vollem Einkaufswagen.

Sind Daten das Öl der Neuzeit? Wer den Zugriff hat, gewinnt?

Sihn: Da ist was Wahres dran. Der Supermarkt wird Sie mit "Hallo, Martina" begrüßen. Schaufenster werden keine physischen Auslagen haben, sondern Monitore, die schon drei Sekunden früher erkennen, wer da kommt. Weil Ihr Profil hinterlegt ist – das gibt es schon, keine Sorge. Wenn Sie davor stehen, wird genau das angezeigt, was Sie interessiert.

Aber nur, wenn ich in diesem Geschäft schon mal eingekauft habe, oder?

Sihn: Nein, Sie sind gläsern – außer Sie haben überall nur mit Bargeld bezahlt. Buchen Sie doch nur eine Capri-Reise im Internet! Sie erhalten sofort ähnliche Angebote. Google bauen keine Autos, um sie zu verkaufen, sondern weil sie mit den Telematik-Daten Unmengen verdienen werden.

Ist es denn gesund, dass diese Daten von so wenigen Weltfirmen genutzt werden?

Sihn: Kurzfristig betrachtet ist diese Vormacht keine gute Entwicklung. Allerdings hat es noch kein Unternehmen geschafft, sich dauerhaft so stark zu etablieren. Denken Sie an Nokia. Wenn du einen Trend verschläfst – und da geht es um Monate – bist du weg. In dieser Sekunde werden fünfunddreißig Prozent des Internet-Verkehrs in den USA von einer Firma verursacht, die keine drei Jahre alt ist: Netflix.

Aber zumindest hätten wir gerne die Kontrolle über unsere Daten. Oder ist der Zug abgefahren?

Sihn: Das ist schlicht ein Geschäftsmodell. Damit kann man unglaublich viel Geld verdienen. Die politische Frage ist: Wo ist die Grenze? Wie viel ist öffentlich? Derzeit klagt ein Autobesitzer BMW, weil die Firma Zugriff auf sein Auto und damit seine Daten hat.

Mahrer: Die Frage ist, ob es ein Grundrecht auf Datensouveränität gibt. Vielen ist ja auch nicht klar, dass Roboter längst im Alltag angekommen sind. Das selbstfahrende Auto gibt es schon, es fehlt nur noch der europäische Rechtsrahmen. Wo sagen wir Stopp? Manche Regierungen, etwa Estland, machen in der Verwaltung alles nur noch digital. Auch dort gibt es Debatten, wie viele der Daten weiterhin dem Bürger gehören.

Wie anfällig sind Staaten für Hackerangriffe?

Mahrer: Datensicherheit und Cybersecurity werden noch mehr boomen. Da sind viele kleine österreichische Firmen top – ein gutes Beispiel, wie neue Jobs entstehen.

Wenn schon die Dinge miteinander plaudern, wie soll man da Betriebsspionage verhindern?

Sihn:Die EU-Kommission hat die Initiative zur Datensicherheit ergriffen, um den Amerikanern das Feld nicht kampflos zu überlassen.

Mahrer: Je spezialisierter das Unternehmen, umso schwieriger ist es zu kopieren.

Sihn: Für dieses simple Wasserglas in meiner Hand ist die Kopiergefahr extrem groß. Also muss ich etwas anbieten, das andere nicht haben: Ich verschenke das Glas und liefere tolle Getränke dazu. Geschäftsmodelle spielen eine entscheidende Rolle.

Könnten theoretisch alle Produkte "intelligent" werden?

Mahrer: Es gibt Blutkonservenverpackungen, die kontrollieren, ob sie korrekt gelagert sind und wohin sie geflogen werden. Ein österreichisches Start-up stellt Scanner her, die Radioaktivität oder andere Strahlungen messen, etwa zur Terrorbekämpfung.

Sihn: Ich habe eine intelligente Tasche – wenn ich mich zu weit entferne, klingelt das Handy und fragt, ob ich sie vergessen habe. Sie kann den Laptop laden und vieles mehr. Früher musste sich ein Produzent mit Leder und Nähen auskennen. Jetzt kommen Batterietechnik, Datenübertragung, Schnittstellen, GPS dazu – Technologien, von denen er bisher keine Ahnung hatte.

Überfordern wir uns nicht als Menschen, wenn so vieles für uns künftig nicht mehr greifbar und kontrollierbar ist?

Mahrer: Vielleicht brauchen wir eine neue Aufklärung, um zu hinterfragen, was es heißt, Mensch zu sein. Wir haben keine Glaskugel um zu sehen, was in 20 Jahren ist – aber es wird dramatisch anders sein. Und da brauchen wir die geistige Wendigkeit, uns nicht zu Tode zu fürchten, sondern zu sagen: Wir gestalten das selbst, nach unseren Grundsätzen. Das ist die große Debatte der nächsten 10 bis 20 Jahre.

Eine völlig andere Frage an Sie, als Deutschen, gerichtet ...

Sihn: ... ich bin Österreicher.

Aber in Deutschland aufgewachsen. Was halten Sie von Didi Hallervordens "Heim ins Reich"-Sager, der darauf hinweisen sollte, dass Österreich seine Geschichte noch immer nicht ordentlich aufgearbeitet habe?

Sihn: Ich fand die Bemerkung einfach daneben. Wer Herrn Hallervorden kennt, weiß ...

Mahrer: ... dass er bessere Scherze machen kann.

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Begriffsverwirrung Wer in den USA über „Industrie 4.0“ spricht, erntet fragende Blicke: Dort hat sich der Begriff „Industrial Internet“ eingebürgert – weil IT-Konzerne wie Intel, Cisco oder IBM das Thema dominieren. Die Japaner wiederum fokussieren stärker auf die Maschinen und Roboter. Oft werden international auch die Begriffe „Internet der Dinge“ oder „cyber-physische Systeme“ verwendet. Gemeint ist das Zusammenwachsen von Gegenständen des Alltags mit dem Internet und der virtuellen Welt.

Wilfried Sihn Der gebürtige Deutsche (59) ist Experte für Industrie 4.0 und Chef der Fraunhofer Austria Research GmbH. Sie ist eine Tochtergesellschaft des deutschen Instituts, das auf anwendungsorientierte Lösungen für die Wirtschaft spezialisiert ist. Sihn ist außerdem Professor an der TU Wien.

Harald Mahrer Der ÖVP-Politiker (42) war Berater und ist seit dem Vorjahr Staatssekretär im Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium. Er gilt als unkonventioneller Denker in seiner Partei.

„Der Einmarsch der Roboter vollzieht sich ebenso planmäßig wie leise.“ Der Satz könnte aus der aktuellen Debatte stammen. Er ist aber aus einem Spiegel-Artikel, der vor exakt 51 Jahren erschienen ist.

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Damals waren es schaltergeregelte Fertigungsstraßen, Backautomaten oder Schlachtapparate, die die menschliche Arbeit scheinbar bedrohten. Die Sorge über den „jobmordenden Nebeneffekt des technischen Fortschritts“ ist freilich viel älter: Anfang des 19. Jahrhunderts zertrümmerten „Maschinenstürmer“ als Protest gegen soziale Folgen der Industrialisierung die Webstühle.

Die Argumente haben sich bis heute wenig verändert. Ja, es gibt sie: Berufsbilder, die ersatzlos aussterben. Menschenleer sind die Fabriken dennoch nicht geworden. Das zeigt das Beispiel der berüchtigten Halle 54 in Wolfsburg. 1983 eröffnete Autobauer Volkswagen diese Fertigungsstraße für das Massenprodukt VW Golf II. Die bis dahin unerreichte Automatisierung ersetzte 1000 Arbeiter in der Endmontage. Das Kalkül ging dennoch nicht auf: Die komplexe Anlage tolerierte nicht den kleinsten Fehler, jede unsauber gedrehte Schraube führte zum Stillstand. Dann mussten Mechaniker über die Zäune klettern, um das Werk in Gang zu setzen.

Heute gilt die völlig menschenleere Fabrik als evolutionärer Irrläufer. Volkswagen ist einer der größten Arbeitgeber geblieben, Deutschland feiert trotz fortschreitender Automatisierung Beschäftigungsrekorde.

Neu an Industrie 4.0 ist die enge Vernetzung der Informationen zwischen Mensch, Maschine und Produkt. Der Roboter muss nicht mehr hinter Gitter – er arbeitet Seite an Seite mit Menschen. Das wird Arbeitsplätze in der Fertigung kosten, es werden aber neue Jobs entstehen. Das Problem: Wir können heute noch nicht sagen, welche.