Wo das Wachstum wirklich sprießt
Ganz gleich, welche Meldung aus China an die Öffentlichkeit dringt: Die Aufregung der Finanzmärkte ist gewiss. Mit Argwohn wird jede Bewegung beobachtet, vom Handelsstreit mit den USA über schwächelnde Apple-Verkaufszahlen bis hin zu den gesenkten Prognosen: Chinas Regierung rechnet jetzt „nur“ mit 6,0 bis 6,5 Prozent Wachstum. Ist die Sorge also angebracht?
Keine harte Landung
„Seit ungefähr zehn Jahren ist China immer wieder einer der großen Spielverderber“, sagt Friedrich Strasser, Partner und Vorstandsmitglied der Wiener Privatbank Gutmann. Um ein Gefühl für die Wirtschaftsentwicklung zu bekommen, reist der Anlageprofi einmal pro Jahr selbst nach China. Anzeichen für die befürchtete „harte Landung“, also einen Absturz der Wirtschaft, habe er nicht ausgemacht, sagt Strasser.
Dagegen spricht das Gedränge in den Einkaufszentren oder die vielen einheimischen Touristen, die vor Sehenswürdigkeiten Schlange stehen, für die sich vor fünf Jahren kaum ein Besucher interessiert hatte.
Ob sich das Wachstum am Ende bei vier, sechs oder acht Prozent einpendelt, könne man bei einem solchen Lokalaugenschein natürlich nicht erkennen. Man erhalte aber ein Gefühl dafür, wie stabil sich der Konsum entwickelt. Strassers Fazit: „Es gibt aktuell kein China-Krisenthema, das mich nervös macht.“
Übergroßes Interesse
Aber warum genießt der asiatische Riese überhaupt so viel Aufmerksamkeit, wo doch Ausländer ohnehin kaum vernünftig in chinesische Aktien oder Anleihen investieren können? Die Bank Gutmann verzichtet ganz drauf, chinesische Unternehmen zu screenen: zu intransparent.
Das große Interesse erklärt sich anders: Das Reich der Mitte ist die globale Wirtschaftslokomotive schlechthin. Allein 2018 ist Chinas Wirtschaft um 1500 Milliarden Dollar gewachsen. Um es anschaulicher zu machen: Die jährliche Wirtschaftsleistung von Spanien oder Russland ist dazugekommen. Wenn man zur besseren Vergleichbarkeit auch noch die Kaufkraft berücksichtigt, erschließt sich, wie wichtig China für die Weltwirtschaft ist.
Inzwischen kommen 27 Prozent des globalen Zuwachses aus China. Das ist mehr als jener von USA und EU zusammen. Und: Der Zuwachs ist in absoluten Zahlen heute größer als er in den 1990ern oder Mitte der 2000er-Jahre war, als China noch zweistellige Wachstumsraten verzeichnet hatte.
Übrigens: Wer bei „Made in China“ immer noch Billigspielzeug oder T-Shirts vor Augen hat, liegt gehörig daneben. Das war einmal, in den 1980ern und 90ern. Heute steht das Label oft für Hightech. Laut der jüngsten Importstatistik für 2018 kauften die Deutschen im Vorjahr Waren im Wert von 106 Mrd. Euro aus China ein.
Knapp die Hälfte des Volumens entfiel auf Datenverarbeitungsgeräte, elektrische und optische Erzeugnisse, Batterien, Elektromotoren und Haushaltsgeräte. China ist zudem seit 2015 Deutschlands wichtigstes Importland. Zum Vergleich: 1980 lag die Volksrepublik in der Rangliste auf Platz 35 und sogar im Jahr 2000 noch auf Platz 10.
Bleibt ein Fragezeichen
Wie zuverlässig sind die offiziellen Zahlen, die Chinas Führung bekannt gibt?
„Wir wissen nicht, was die Daten taugen“, räumte Gabriel Felbermayr, Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, kürzlich ein. Die Kommunistische Partei in Peking will vor der Öffentlichkeit den Schein einer stabil wachsenden Volkswirtschaft aufrecht erhalten.
Der Vergleich der offiziellen Angaben mit alternativen Maßzahlen für den Produktions-Output gibt Anlass zu Skepsis. Die offizielle Wirtschaftsleistung scheint wie von einem Schnürchen gezogen; von Jahr zu Jahr etwas weniger, aber auffällig konstant. Die anderen Indikatoren weisen viel stärkere Schwankungen auf. Dass es 2016 fast eine Rezession gegeben habe, sei aus Pekings Angaben nicht abzulesen, so Felbermayr.
Schlechte Zahlungsmoral
Und tatsächlich: Es gibt Anzeichen, dass in der Volksrepublik nicht alles rund läuft. Die von US-Präsident Trump verhängten Strafzölle sind nicht spurlos vorübergegangen. Laut einer aktuellen Umfrage des Kreditversicherers Coface haben 62 Prozent der 1500 befragten chinesischen Unternehmen im abgelaufenen Jahr Zahlungsverzögerungen erlebt – vor allem im Bau-, Auto- und IT-Sektor.
Eine Mehrheit von 59 Prozent hält es für unwahrscheinlich, dass sich das Wachstum 2019 verbessert. Es ist das erste Mal seit dem Start der Umfrage 2003, dass die Skepsis überwiegt.
Zukunftsszenarien
Vielleicht hat das Schwächeln einen positiven Nebeneffekt: China könnte gezwungen sein, seine Wirtschaft rascher zu öffnen als beabsichtigt. Das deutete Premier Li Keqiang diese Woche beim jährlichen Boao-Forum in Hainan an. Banken, Versicherer und Ratingagenturen sollen mehr Freiräume erhalten.
Das Handeln von Anleihen soll für Ausländern vereinfacht werden. Ähnliches hat man zwar schon öfter gehört. Dieses Mal könnte Chinas Führung aber – auch angesichts des US-Drucks – gezwungen sein, Ernst zu machen.