Wirtschaft

Warum uns die Nachbarn überflügeln

Die Nachbarn haben die Nase vorn: Bratislava und Prag haben Wien in Sachen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit überflügelt. Warschau liegt überhaupt weit voran – wenn man die Hauptstadt allein betrachet und die umliegende ärmere Region Masowien ausklammert (siehe Grafik unten).

Fakt ist: Seit dem EU-Beitritt haben osteuropäische Metropolen rasant aufgeholt. "Das Tempo ist wirklich bemerkenswert", kommentiert Zsoltan Darvas, Experte der Brüsseler Denkfabrik Bruegel. "Dadurch sollten sich diese Städte auch bei anderen Aspekten der Lebensqualität verbessern können."

Ungarns Hauptstadt Budapest liegt zwar hinter Wien, setzt aber zum Sprung an. Sloweniens Hauptstadt Ljubljana hingegen fällt, besonders seit der Krise, zurück.

Die Statistik basiert auf den Daten von Eurostat zur regionalen Wirtschaftsleistung (BIP). Für eine bessere Vergleichbarkeit sind die Zahlen pro Kopf (Einwohner) und auf ein einheitliches Preisniveau umgelegt. Die unterschiedliche Kaufkraft ist dabei also berücksichtigt.

Geringere Einkommen

Aber kann das stimmen? Die Zahlen lügen nicht, dennoch liefert die Statistik ein verblüffendes Bild, das der Alltagserfahrung widerspricht. Noch dazu, wo das BIP pro Kopf als ein Indikator für den Wohlstand gilt. Es ist nur eine Kennzahl, aber eine wichtige: An ihr bemisst die EU die Förderwürdigkeit der (schwächsten) Regionen. Sollten Bratislava und Prag nun also tatsächlich "reicher" sein als Wien?

"Mein Eindruck wäre, dass das nicht der Fall ist", sagt Roman Römisch, Osteuropa-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Er sieht eine Erklärung für den Vorsprung von Prag und Co. darin, dass die Hauptstädte in Osteuropa eine noch stärkere Magnetwirkung haben. Das heißt: Dort sind die Profite und die Firmenzentralen konzentriert, viele Pendler tragen überdurchschnittlich zur Wirtschaftskraft bei.

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Auf die Geldbörsen der Bewohner lässt sich das aber nicht eins zu eins übertragen: Das verfügbare Haushaltseinkommen – auch bei einheitlicher Kaufkraft – liegt noch weit zurück: In Bratislava erreicht es gerade 81 Prozent des Wiener Niveaus. In Mittelungarn, der Region rund um Budapest, ist es sogar nur knapp mehr als die Hälfte. Das liefert ein realistischeres Bild dafür, was die Menschen tatsächlich vom Boom haben und sich leisten können, sagt Römisch. Die Metropolen profitieren, weil dort die großen Absatzmärkte, Arbeitskräfte, beste Infrastruktur und die meisten ausländischen Investitionen konzentriert sind. Die ärmeren Regionen machten nach dem EU-Beitritt zwar gegenüber dem EU-Durchschnitt Boden wett. Mit ihren eigenen Boomregionen konnten sie aber nicht Schritt halten, hier ging die Schere weiter auf, erklärt Römisch.

Wien von fünf auf elf

Bedenklich ist allerdings, dass Wien einmal mehr in einem Ranking schrittweise zurückfällt. 2000 waren von 273 EU-Regionen nur London City, Brüssel-Hauptstadt, Luxemburg und Hamburg besser platziert. 2011 (die aktuellsten Daten) ist Wien auf Platz elf abgesackt. Neben Bratislava und Prag sind nun auch der Ballungsraum Paris, die niederländische Provinz Groningen, Stockholm und Oberbayern besser gereiht.

Bratislava liegt vor Wien: Ja, fließt die Donau stromaufwärts, oder wie? Kein Grund zur Panik. Die Slowaken sind nicht schlagartig wohlhabender als die Österreicher geworden. Und dass die neuen Nachbarn wirtschaftlich aufholen, ist die Kernidee ihrer EU-Mitgliedschaft. Davon profitiert auch Österreich als direkter Nachbar und wichtigster Investor in der Region.

Ein Problem ist allerdings, dass sich das Wachstum in diesen Ländern so extrem auf die Großstädte konzentriert. Für die schwächsten Regionen fällt hingegen wenig ab. Markantes Beispiel: Bukarest spielt bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf in einer Liga mit Madrid und Rom. Rumäniens Nordosten erreicht gerade ein Viertel des Wertes.

In den reicheren Ländern wie Österreich ist die Wirtschaftskraft hingegen viel einheitlicher verteilt. Wiens Absacken ist trotzdem bedenklich. Seit 2000 haben uns nämlich nicht nur boomende Osteuropäer, sondern auch etablierte Regionen – zuletzt Oberbayern – überholt.