Talent oder Fleiß: Was es braucht, um an die Spitze zu kommen
Von Nicole Thurn
Als der kleine, gedrungene Mann mit den schlechten Zähnen zum Singen ansetzt, verstummen die letzten Lacher im Saal. Er schmettert die Arie spielend – wie ein Operngott. Das Publikum tobt.
Die Faszination des Talents ist ungebrochen: Jeder könnte es haben, suggerieren Talenteshows. Das eine, herausragende Talent. Doch der Talentierte ist kein genetischer Glücksfall. Was das Publikum nicht sieht, ist die jahrelange Arbeit dahinter.
Wir neigen dazu, das offenkundige "Naturtalent" weit höher zu bewerten als den "Fleißigen", wie ein Experiment der Harvard University aus dem Jahr 2010 zeigt: 103 ausgebildete Musiker mussten zwei Klavierstücke bewerten – das eine stammte von einem Naturtalent, das andere von einem Pianisten, der sich seine Karriere hart erarbeitet hatte. Die Probanden mussten die Stücke bewerten und entscheiden, welchen der beiden sie einstellen würden. Den Fleiß bewerteten die Befragten zwar höher, doch die Mehrheit entschied sich für das Naturtalent – ihm sagten sie höhere Erfolgschancen voraus. In Wahrheit stammten beide Stücke vom selben Pianisten.
Erforscht
Dass man ohne Fleiß aber nicht weit kommt, zeigen Erkenntnisse der Gehirnforschung: Wir müssen eine Sache 10.000 Stunden – etwa zehn Jahre – lang üben, so der schwedische Psychologe Anders Ericsson, um Spitzenleistungen zu erbringen; sei es im Geigespielen oder im Skislalom. Dann sei das Talent irrelevant, denn jeder könne im Bereich seiner Wahl Spitzenleistungen erreichen. Nicht das Talent sei entscheidend – alles, was man dazu brauche, seien Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen. Und genau dafür dürfte es eine genetische Disposition geben.
Die Populärwissenschaft übernimmt diese Erkenntnisse gern: Der deutsche Wissenschaftsjournalist Werner Siefer beschreibt im Buch "Das Genie in mir", dass jedes Talent erlernbar sei, US-Wissenschaftsguru Malcolm Gladwell sieht überhaupt die Herkunft als weit entscheidender an.
Dem würde die Mehrheit der Wissenschafter widersprechen, meint Aljoscha Neubauer, Leiter der Abteilung Differenzielle Psychologie an der Karl-Franzens-Universität Graz, der gerade an seinem Buch "Kluge Köpfe" arbeitet: "Talent ist eine notwendige Voraussetzung, um außergewöhnliche Leistungen zu erreichen." Diese würden sich aber nicht von selbst zeigen, "wenn man das Talent nicht einsetzt – in Form von Üben". Und das eben 10.000 Stunden lang.
Auch Genetiker Markus Hengstschläger bestätigt im Buch "Die Durchschnittsfalle": Erfolg hänge nie von nur einem Talent ab, sondern von einer Vielzahl von Leistungsvoraussetzungen, die entdeckt werden müssten und erst durch harte Arbeit zum Erfolg führten. Verkürzt könnte die Formel lauten: Entdecktes Talent + harte Arbeit = Erfolg.
Mit Training und Lernen dürfte eine geringere Begabung immerhin bis zu einem gewissen Grad wettgemacht werden, wie eine Untersuchung von Neubauer aus dem Jahr 2006 zeigt: Begabte Schüler mit unterdurchschnittlicher Schulleistung wiesen dieselben Gehirnaktivitäten auf wie weniger Begabte, deren Schulleistung durch intensives Lernen überdurchschnittlich war.
Aber: "Ab einem bestimmten Punkt gibt es eine gläserne Decke, die man ohne eine Grundbegabung nicht durchbrechen kann" , sagt Neubauer. Ein nur durchschnittlich begabter Schachspieler könne es mit enormem Einsatz und Selbstdisziplin zwar in die Bundesliga schaffen, "aber der international Beste wird er wohl nie werden".
Der talentierte Chef
Alexander Kail, Headhunter bei Stanton Chase, schätzt, beruflicher Erfolg sei zu 49 Prozent auf Talent zurückzuführen, zu 51 Prozent auf Fleiß. "Fleiß ist eine Grundvoraussetzung. Gute Anlagen ohne Einsatz helfen nichts, um im Beruf wirklich gut zu sein." Bei den Führungskräften zähle das Talent jedoch mehr: "Fleiß allein macht noch keine gute Führungskraft. Es gibt Menschen, die kann man auch mit hundert Entwicklungsprogrammen nicht zu einem guten Chef machen." Ein gewisses Maß an sozialen Fähigkeiten müsse vorhanden sein.
Die gute Nachricht für die weniger Fleißigen und Talentierten: Der berufliche Erfolg hänge auch von weiteren Faktoren ab, sagt Headhunter Kail. Das wären? "Glück. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und Erfahrung."
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