Gedenkenexperiment: Wenn Frauen die Welt mitgestalten würden
Was wäre, wenn Frauen gleiche Chancen in der Bildung hätten?
Die starke Ungleichheit im Kompetenzerwerb zwischen Mädchen und Jungs zeigt sich bereits in der vierten Schulstufe.
Während 68 Prozent der Mädchen den Bildungsstandard in Lesen erreichen oder übertreffen, sind es bei Burschen nur 56 Prozent.
In Mathematik verhält es sich umgekehrt. Bereits im Kindergarten werden Burschen beim technischen Spielen und Basteln bestärkt und ermutigt, Mädchen beim fürsorglicheren Spielen, etwa mit Puppen. „Das bestärkt die Bilder bereits sehr früh“, erklärt Sybille Pirklbauer von der Arbeiterkammer.
Und das zieht sich weiter. „ Es wird ständig behauptet, Mädchen würden sich halt immer für die gleichen drei Lehrberufe entscheiden: Friseurin, Einzelhandelskauffrau und Bürokauffrau“, ärgert sich Pirklbauer.
Aber auch Lehrberufe sind geschlechtlich geprägt. Und zwei Drittel sind von Burschen besetzt. Andere Möglichkeiten werden zu wenig aufgezeigt.
An Universitäten werden nur rund 34 Prozent der MINT-Fächer ( Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) von Frauen studiert.
Wie wäre die Welt?
Was wäre, wenn Mädchen und Jungs keine geschlechtlich geprägten Bilder vermittelt bekämen? Gäbe es weniger Ungleichheit und insgesamt eine bessere Gesellschaft?
Ja. „Wenn Klischee-Bilder bewusst reflektiert und aus dem Alltag der Kinder entfernt würden, würden Ausbildungen gewählt, die Kinder wirklich wollen“, so Pirklbauer. Mädchen würden selbstbewusster in MINT-Berufe gehen, Burschen könnten sich öfter für Fürsorgliches entscheiden.
Die Gesellschaft wäre gesünder. Da Menschen, die glücklich im Beruf sind, auch private Krisen besser bewältigen. Und weil Bedürfnisse von Frauen in der Gesellschaft befriedet würden, die von Männern nicht gesehen werden, weil es sie nicht betrifft.
Was wäre, wenn Frauen die Wirtschaft
mitgestalten würden?
Frauen verdienen etwa 80 Prozent des Einkommens eines Mannes. Obwohl sie öfter einen Hochschulabschluss haben.
30 Prozent der Frauen sind auf finanzielle Unterstützung von ihrem Mann angewiesen. Ist die Frau Hauptverdienerin, ist der Haushalt öfter armutsgefährdet.
Die finanzielle Notlage zieht sich oft bis in die Pension. Die Gründe dafür sind strukturell, in der Sozialisation und in den typischen Rollenzuschreibungen zu suchen, die sich seit Jahrhunderten festgesetzt haben.
Die Männer zur „unausgesprochene Selbstverständlichkeit“, erheben, wie Caroline Criado-Perez in ihrem viel zitierten Buch „Unsichtbare Frauen“ schreibt. Ein plakativer Beleg dafür ist jenes Foto von Angela Merkel, die als einzige Frau aus der homogenen Männerpartie ins Auge sticht. Und ins Herz.
Denn die Durchschnittsfrau wählt einen anderen Weg, als den zur Vielverdienerin: Sie erlernt einen Beruf, der mit Menschen zu tun hat, aber schlecht bezahlt ist, sie bleibt (länger) bei den Kindern Zuhause, sie arbeitet Teilzeit, hilft den Eltern, wenn sich das Sorgeverhältnis umkehrt.
Wenn dann endlich ihre Zeit gekommen wäre, um beruflich in die Vollen zu gehen, wurde sie überholt und gilt am Arbeitsmarkt als alt.
Was wäre, wenn Frauen und Männer in der Wirtschaftswelt gleich schwer wiegen würden?
Wenn etwa der Frauenanteil an der Spitze von börsennotierten Unternehmen bei zumindest 50 und nicht bei 7,3 Prozent läge und Männer gleich lang in Karenz wären, wie ihre Frauen? Wäre die Wirtschaft weniger liberal, aber lieber zu den Menschen?
Katharina Mader ist Ökonomin und seit 2011 Assistenzprofessorin am Institut für Institutionelle und Heterodoxe Ökonomie der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie sagt: „Wir wären jedenfalls alle zufriedener.“
Das wäre doch ein hehres Ziel. Auch für Männer. Der erste Schritt: „Das auf Erwerbsarbeit zentrierte System überarbeiten. Arbeit anders verteilen, bewerten und bemessen“, sagt Mader.
Konkret so: Berufe, die für die Gesellschaft notwendig sind, wie die Pflege und Kinderbetreuung, – und meist von Frauen gewählt werden – aufwerten. Die Anreize erhöhen, damit Männer und Frauen gleich lang in Karenz gehen.
Arbeitszeiten angleichen, damit nicht Frau 20 Stunden und Mann 50 Stunden pro Woche arbeiten gehen.
Wäre die Wirtschaft dann auch menschenfreundlicher und krisensicherer? Immerhin können und dürfen auch Frauen ungerecht und narzisstisch sein.
Schaden kann es jedenfalls nicht, würden Frauen mehr Verantwortung tragen. Dass Unternehmen mit Frauen und Männern in der obersten Etage profitabler sind und die Belegschaft zufriedener ist, ist nämlich bewiesen.
Was wäre, wenn Frauen das Internet gleichstark mitentwickelten?
Im Oktober 2018 stellte das AMS einen Algorithmus vor, der helfen soll, Fördergelder effizienter zu verteilen. Konkret soll der Algorithmus die Arbeitsmarktchancen des Einzelnen berechnen und die Arbeitssuchenden in Gruppen (geringe, mittlere und hohe Arbeitsmarktchancen) einteilen.
Er soll Frauen Punkte abziehen, weil sie aufgrund ihres Geschlechts geringere Chancen am Arbeitsmarkt haben. Frauen mit Betreuungspflichten werden noch mehr Punkte abgezogen.
„Frauen fallen überproportional häufig in die Gruppe, der mittlere Arbeitsmarktchancen errechnet werden“, sagt AMS-Vorstand Johannes Kopf in einem offenen Brief 2019.
Das AMS will dazu auf KURIER-Anfrage nichts sagen, außer: „Der Algorithmus bildet Realitäten ab.“ Noch ist nicht klar, ob das System jemals eingesetzt werden wird.
Eine ähnliche Herangehensweise hatte der Bewerbungsroboter von Amazon. Er schloss weibliche Bewerberinnen tendenziell aus, weil in der Vergangenheit bei Amazon meist Männer eingestellt wurden.Der Roboter dachte somit, Männer seien die vielversprechenderen Bewerber.
Die Arbeitswelt ist generell männlich ausgerichtet: Sucht man im Internet nach dem Stichwort „CEO“, werden hauptsächlich Männer gezeigt.
Warum? Das Internet ist männerdominiert, die Menschen hinter den Algorithmen sind meistens Männer. In der Entwicklung des AMS Algorithmus war keine Frau involviert, hat Futurezone-Journalistin Barbara Wimmer recherchiert.
Und wenn mehr Frauen die Algorithmen bauen?
Wären Frauen und Männer gleichermaßen in die Software-Entwicklung involviert, wäre die digitale Welt fairer? Gäbe es weniger Diskriminierung? Gäbe es weniger Gewalt und Hass gegen Frauen?
„Diskriminierung im Internet passiert überall dort, wo es in der analogen Welt auch passiert. Zugang, Gewalt, Hass, Diskriminierung – das lässt sich endlos fortführen“, sagt Francesca Schmidt, Referentin für Feministische Netzpolitik an der Heinrich Böll Stiftung.
Aber die zentrale Frage ist: Wer entwickelt? Wären diese Entwicklerteams multiperspektivisch, diverser, würden diskriminierende Mechanismen weniger passieren.
Wären die Perspektiven von Frauen, Transpeople, schwarzen Frauen, schwarzen Männern, Menschen mit Migrationshintergrund in die Entwicklung involviert, werden diese Gruppen weniger exkludiert, weil sie sie ihre eigenen Lebenswelten mit einbeziehen.
„Analoges und Digitales verläuft fließend, man kann sie nicht trennen.“ Was wäre also anders, gäbe es die Gleichbehandlung?
„Wenn es keine digitale Gewalt an Frauen mehr gäbe, gäbe es auch keine Gewalt an Frauen mehr in der analogen Welt“, sagt Schmidt. „Das Internet ist nicht neutral, weil es etwas ist, das wir erschaffen. Das Internet soll Menschen befähigen, nicht beschränken.“ Die Welt wäre inklusiver.
Wie wäre die Welt, wenn auch Frauen die Norm wären?
„Mehr Frauen werden positiv auf COVID-19 getestet, denn sie arbeiten in Berufen, die exponierter sind und kümmern sich meist um die Kinder anderer pflegebedürftigen Angehörige.
Doch Männer erkranken schwerer und sterben auch öfter daran“, sagt Alexandra Kautzky-Willer, Leiterin der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel und Leiterin der Gender Medicine Unit an der Medizinischen Universität Wien.
Einer der Gründe dafür sei, dass die Sexualhormone Frauen ein stärkeres Immunsystem schenken.
Paradox, dass eine Krankheit, die Männer schlimmer trifft als Frauen, das Licht darauf wirft, dass sich Männer und Frauen in der Entstehung und Ausprägung von Krankheiten unterscheiden und Frauen in der Medizin nicht gleich behandelt werden.
Genauer gesagt: „Sie werden gleich behandelt, obwohl sie es biologisch nicht sind“, so Kautzky-Willer. Doch auch in der Medizin liefert seit jeher der Mann die Blaupause.
Die Auswirkungen davon können lebensbedrohlich sein. Etwa, wenn ein Herzinfarkt bei Frauen nicht erkannt wird, weil die Symptomatik anders ist oder Frauen einen nötigen Rehaaufenthalt nicht akzeptieren, weil sie meinen, sie seien Zuhause unabkömmlich.
Gendermedizin ist eine noch junge Disziplin, die von Alexandra Kautzky-Willer maßgeblich vorangetrieben wird. Ihre Bedeutung ist nicht zu unterschätzen.
Würde die Verschiedenheit von Frau und Mann in der Medizin besser erforscht und gelehrt werden, wären Frauen bei besserer Gesundheit.
Und Männer, wie die Pandemie zeigt, auch. Frauen, die sich nicht ernst genommen fühlen, rät Kautzky-Willer, sich an frauenspezifische Zentren, wie das La Pura, zu richten.
Die Liste der Ungerechtigkeiten, denen Frauen in ihrem Alltag begegnen, ist lang, wenn auch nicht immer so lebensgefährlich, wie in der Medizin: Frauen- und Männertoiletten sind meist gleich groß, obwohl eine Männertoilette wegen der Urinale von mehr Männern zur gleichen Zeit besucht werden kann.
Frauen aber brauchen oft länger auf der Toilette, unter anderem weil meist sie die Kinder dabei haben.
Oder: Die Helden in Computerspielen sind großteils männlich. Oder: Die Oktaven auf einer Standardklaviatur sind für große Hände gemacht, also für Männer.
Oder: Bei Auto-Crashtests sitzt immer der „50%-Mann“-Dummie, der 1,75 Meter groß und 78 Kilogramm schwer ist, am Lenkrad. Der „5%-Frau“-Dummie, mit einer Größe von 1,52 Meter und 54 Kilogramm, darf diagonal hinten Platz nehmen. Das ist keine absichtliche oder gar böswillige Benachteiligung, sondern schlicht der Vergleichbarkeit der Daten geschuldet. Autohersteller, so versichert der ÖAMTC-Experte Max Lang, würden ihre Simulationen und Test in allen Variationen durchführen.
Doch all diese Beispiele zeigen: „Wenn wir „Mensch“ sagen, meinen wir meistens den Mann“, schreibt Caroline Criado-Perez. Vielleicht ist das der Anfang der Veränderung: Frauen und Männer sollten anfangen, nicht nur den weißen Mann als Norm zu denken.