Die Strategie der Genies
Magnus Carlsen, der Mozart des Schachs
Nach vier Stunden, vor seinem 45. Zug, streckt Viswanathan Anand die Hand übers Brett. Diese Geste drückt im Schach eines aus: Aufgabe. Zum zweiten Mal muss sich der 45-jährige Inder dem 23-jährigen Magnus Carlsen ergeben. Zum zweiten Mal wurde das Wunderkind am Sonntag Weltmeister.
Magnus Carlsen gilt als Mozart der Schachwelt: Mit fünf Jahren lernte er vom Vater Schach, mit 13 wurde er Großmeister, mit 22 Jahren zum ersten Mal Weltmeister, kurz vor seinem 24. Geburtstag, am morgigen Sonntag, zum zweiten Mal. Den reichsten Mann der Welt, Microsoft-Gründer Bill Gates, vernichtete Carlsen auf dem Schachbrett in 70 Sekunden. Er nimmt es mit jedem Gegner auf, sogar mit einer ganzen Armee: An der Uni Harvard spielt er gleichzeitig und mit verbundenen Augen gegen zehn Top-Anwälte – und gewinnt 10 zu 0. Carlsen wird in seiner Heimat Norwegen geliebt wie ein Rockstar, so sehr, dass sich Buben wie Mädchen sein Poster übers Bett hängen. Das Time-Magazine zählte ihn zu den hundert einflussreichsten Persönlichkeiten weltweit. Was kann man von ihm lernen?
Zieh dein Ding durch
In Interviews gibt sich Carlsen meist gelangweilt, er sitzt zurückgelehnt und schief im Sessel, er lungert wie ein Teenager, der vor Selbstüberschätzung stinkt. Doch das täte Carlsen Unrecht: Er gilt als der beste Schachspieler der Gegenwart. Und er strotzte schon als Bub vor Selbstbewusstsein: Mit 13 Jahren gab er sich in einem Pool planschend vor einer Partie gegen den sechsfachen Schach-Weltmeister Anatoli Karpow siegessicher. Beim Spiel schüttelte der blonde Junge dem Mann mit schütterem Haar die Hand. Irgendwann zog Anatoli Karpow einen Mundwinkel nach unten und streckte dem Kind vor ihm erneut die Hand hin: er hatte tatsächlich gegen einen 13-Jährigen verloren. „Es gibt vieles, das einen unsicher macht, du musst einfach nur damit umgehen können“, sagt Magnus Carlsen in einem Interview mit der ZEIT.
„Es gibt immer Möglichkeiten, und du sollst immer kämpfen.“
Einschüchtern ließ er sich nie.
Carlsen hat maximales Talent und ist sich dessen voll bewusst. Er muss nicht sein, wie andere ihn wollen, er versucht nicht, sich anzupassen. Er zieht sein Ding durch, auch wenn sein Stil kritisiert wird. Diese Authentizität und dieses Selbstvertrauen müssen auch Chefs besitzen. „Der Glaube an sich selbst ist sehr wichtig. Wenn du nicht glaubst, dass du gewinnen kannst, dann triffst du feige Entscheidungen in den entscheidenden Momenten, nur aus Respekt vor deinem Gegner“, sagt Carlsen.
Übe und kämpfe
Als Kind saß Magnus Carlsen beim Essen auf einem anderen Tisch als seine Familie, damit er genug Platz hatte, um die Figuren zu bewegen. Er hat Stunden und Stunden in Schach investiert und beherrscht es dadurch wie kein Zweiter. Dazu kommt, dass es schwierig ist ihn zu lesen, seine Denke zu verstehen. Markus Ragger ist Österreichs bester Schachspieler und hat bereits zwei Mal gegen Carlsen gespielt. Er sagt: „Er findet immer Ressourcen, kämpft immer weiter. Man macht Fehler, wenn man etwas unbedingt will – er nicht. Sein großer Vorteil liegt in seinem starken Endspiel. Doch es ist schwer greifbar, was ihn da so stark macht. Andere Spieler kann man nachahmen, bei Carlsen ist das schwierig.“ Carlsen sagt: „Immer noch einen Zug machen, dem Gegner immer noch ein kleines Problem stellen. Es gibt immer Möglichkeiten und du sollst immer kämpfen.“ In der Business-Welt würde man sagen, er versteht die Branche, er kennt sie wie seine Westentasche. Sein Überblick verschafft ihm einen Vorteil. Er hat immer ein Ass im Ärmel.
Ruhe bewahren
Carlsen gibt nie auf, er kämpft bis zum Ende. Wenn seine Gegner nachlassen, dreht er richtig auf. Deutlich ist, dass Carlsen immer die Ruhe bewahrt und dadurch wenige Fehler macht. Sein Gegner in der vergangenen Schach-WM, Viswanathan Anand, sagte bei der Pressekonferenz nach dem Turnier: „Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Offenbar haben meine Nerven zuerst versagt. Er ist insgesamt stabiler als ich.“ Wegen seines Könnens und wegen seiner starken Nerven konnte Carlsen den erfahrenen und älteren Inder schlagen. Carlsens Meinung ist, dass man immer bekommt, was man verdient: „Es mag Partien geben, die ich gewonnen habe, von denen sich sagen ließe, dass ich den Sieg nicht verdient hätte. Aber meine Gegner haben die Niederlage immer verdient. Wenn man eine sehr gute Partie spielt, darüber zu viel Zeit braucht, dann einen Fehler macht und verliert, hat man selber Schuld.“
Schaffe Ausgleich
Will man über Carlsens Privatleben Auskunft, gibt es als Quelle nur seine Facebook-Seite: Dort postet er Fotos von sich beim Golfen, beim Segeln, beim Fußballspielen – der junge Norweger hält Geist und Körper fit. Denn wer in der Arbeit viel sitzt, muss für gesunde Durchblutung sorgen. „Will man eine WM gewinnen, reicht es nicht, ein oder zwei Stunden gut zu spielen, sondern vier, fünf oder auch sechs Stunden lang.“ Vor einer Partie, einem harten Arbeitstag, schläft er mindestens neun Stunden. Nur wer ausgeruht ist, kann klar denken.
Anand, blitzschnell und wissenschaftlich
Viswanathan Anand aus Indien, genannt der Gentleman, fast 45 Jahre alt, hatte zu viel riskiert. Nach knapp vier Stunden verlor er das Spiel am Sonntag – und damit die Weltmeisterschaft. Er eröffnete in der elften Partie initiativ, stark, büßte aber nach und nach an Übersicht ein. Sein Einsatz war zu groß. Nach der Partie sagte er nüchtern: „Ich habe zu viel geopfert und ich wurde bestraft.“
„Wenn du verlierst, wirst du auseinandergerissen. Du nimmst die Attacken persönlich.“
Markus Ragger, Österreichs Nummer 1 im Schach hat zwei Mal gegen Anand gespielt, ein Mal gewonnen. Ragger beschreibt ihn als extrem harten Arbeiter, der sich mehr hineinkniet als andere. Der Wettkampf, das Kräftemessen sei ihm besonders wichtig. Anand sei ein ruhiger Charakter, wenig emotional. Aber auch wenn er während des Spiels keine Emotionen zeigt, nimmt ihn eine Partie stark mit. Sein Job ist sein Leben. „Was auf dem Brett passiert, passiert auch mit dir. Wenn du verlierst, wirst du auseinandergerissen. Du nimmst die Attacken persönlich.“ Von ihm kann man Folgendes lernen:
Bereite perfekt vor
Viswanathan Anand ist für seine akribische Vorbereitung bekannt. Er analysiert sein Gegenüber bis ins letzte Detail, arbeitet mit Computerunterstützung, rechnet, plant, lässt von seinen Mitarbeitern Strategien erarbeiten. „Man entwirft ein vollständiges Bild vom Gegner, fragt sich, was man erreichen will, auf welchem Gebiet man den Kampf sucht und wo die Probleme liegen werden“, erklärt Anand in der ZEIT. Sein Ziel: Perfekt vorbereitet hingehen. Besonderes Augenmerk legt Anand in die Anfangsphase einer Begegnung: Er spielt die ersten Züge besonders stark, setzt seine Gegner sofort unter Druck.
Behalte die Übersicht
Viswanathan Anand ist ein Routinier mit viel Erfahrung. Er war von 2007 bis 2013 Weltmeister und verteidigte den Titel in dieser Zeit drei Mal, bis er von Magnus Carlsen abgelöst wurde. Gelernt hat er das Schachspiel als Sechsjähriger von seiner Mutter. „Theorie ist die eine Sache“, erklärt Ragger, „praktisches Wissen und Erfahrung aber viel wichtiger.“ Anand habe aufgrund seines Alters einen großen Erfahrungsschatz, das sei wichtig für einen Profi. Je unübersichtlicher ein Spiel, desto gefährlicher wird Anand, weil er die Sache meist im Griff hat. „Seine Stärke sind taktische Stellungen: Wenn es kompliziert ist, wenn es viel zu rechnen gibt, fühlt er sich wohl“, analysiert Ragger. Im Endspiel in Sotschi entglitt ihm die Situation. Bei der Pressekonferenz gab Anand zu, in der entscheidenden Phase nicht mehr klar gedacht haben zu können.
Arbeite mit Nachdruck
Markus Ragger ist beeindruckt von Anands Geschwindigkeit. „Er ist blitzschnell, ein extrem schneller Entscheider. Das ist seine absolute Stärke.“ Wie im Top-Management setzt er damit seine Gegner unter Druck, weil auch sie schnelle Entscheidungen treffen müssen. Damit gehen Projekte mit hoher Geschwindigkeit Richtung Abschluss. Wichtig ist, trotz der Schnelligkeit keine Fehler zu machen. Anand war das gegen Carlsen nicht gelungen.