Lustvoll Lernen ist Dünger fürs Gehirn
Von Ernst Mauritz
Gerald Hüther hat eine Mission: Der renommierte Neurobiologe will die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung für alle verständlich machen und in die Praxis umsetzen – um Lebens- und Lernbedingungen zu schaffen, die es jedem Menschen ermöglichen, das Potenzial seines Gehirns optimal zu entfalten. Egal, ob in der Schule, im Studium, im Beruf oder in der Freizeit. Mit dem KURIER sprach er darüber, wie das am besten gelingt.
KURIER: Wenn Sie um nur einen Lerntipp gebeten werden: Welchen nennen Sie?
Gerald Hüther: Wir haben in den vergangenen Jahren in der Neurobiologie herausgefunden, dass nachhaltige Lernprozesse – also nicht nur einmal kurz auswendig lernen und nachher gleich wieder vergessen – nur dann gelingen, wenn es wirklich unter die Haut geht. Wir nennen das die emotionale Aufladung: Diese ist immer dann am größten, wenn Interesse vorhanden ist. Oder wenn Sie etwas lernen, um damit jemandem gefallen zu wollen. Die ungünstigste Form, den Lernstoff emotional aufzuladen, sind Belohnung und Bestrafung.
An den Unis beginnt Montag das Wintersemester. Oft ist es trotz Interesses eine Herausforderung, viel Stoff in kurzer Zeit zu bewältigen. Was bringen Speed Learning oder Schnell-Lesetechniken?
Wenn Sie nicht ausreichend Zeit haben, sich mit einem Thema intensiv genug zu befassen, können Sie natürlich versuchen, Lern- und Leseprozesse zu beschleunigen. Aber die Umbauprozesse im Gehirn, die notwendig sind, um das Erlernte wirklich abzuspeichern, die brauchen Zeit und Tiefe. Das heißt, die Inhalte werden nicht nachhaltig im Gehirn verankert und sind in einem halben Jahr wieder vergessen. Es bleibt sozusagen alles nur Dünnschiss auf der Oberfläche. Überdies nutzen auch Lerntechniken die emotionale Aufladung: Sie knüpfen Sachinformationen an Bildfolgen und machen daraus eine Geschichte. Aber wenn sie gar keine Lust auf Lernen haben, dann wird auch die beste Gedächtnistechnik wenig bewirken. Umgekehrt sind bei hoher Motivation auch im fortgeschrittenen Alter noch außerordentliche Lern- und Gedächtnisleistungen möglich – was ja oft bezweifelt wird. Ich habe dafür ein Lieblingsbeispiel.
Wie lautet es?
Nehmen wir einen 85-jährigen Österreicher, der Chinesisch lernen will. Sein Umfeld wird erstaunt sein. Und er muss mit Reaktionen wie "Das geht doch nicht mehr in deinem Alter" oder "das lohnt sich doch nicht mehr" rechnen. Das entmutigt – und wenn er sich dann trotzdem in der Volkshochschule anmeldet, werden sich alle denken: Das wird nichts mehr. Aber wenn er sich in Österreich in eine Chinesin verliebt und diese ihm erklärt, dass sie mit ihm zurück nach China will, ist die Sache anders: Dort wird der 85-Jährige in kurzer Zeit Chinesisch lernen – weil er sich dort sonst nicht verständigen kann. Das Beispiel ist natürlich eine Übertreibung, aber es zeigt: Es ist kein hirntechnisches Problem, wenn es mit dem Lernen nicht klappt. Es sind die Bedingungen rundherum, die es schwierig machen und dass wir uns zu selten darauf einlassen. Man müsste sich also auch im Alter nochmals so richtig für etwas begeistern können. Aber Freude und Begeisterung, etwas Neues zu lernen, treiben wir ja unseren älter werdenden Menschen oft aus. Den Kindern übrigens auch.
Wieso eigentlich?
Viele Eltern sind heute verunsichert. Es wird ihnen eingeredet, aus dem Kind wird nichts, wenn es nicht möglichst zeitig möglichst viele Kurse und Frühförderungen besucht – kürzlich habe ich einen Golfkurs für Dreijährige entdeckt. Und dann muss es bei der Matura mindestens ein Notenschnitt von 1,0 sein. So kommt Angst auf. Aber die beste Methode, einem Kind die Lust und Freude am Lernen zu rauben, ist, es zum passiven Objekt elterlicher Lernbemühungen zu machen, das mit Wissen gefüttert wird. Das Kind muss aber immer Subjekt, immer Gestalter seines eigenen Lernprozesses bleiben. In der jüdischen Tradition gibt es da einen Trick, wie man das macht: Er besteht darin, dass man mit dem Kind so redet, dass es nie aufhört zu fragen. Jede Antwort, die man gibt, müsste das Kind veranlassen, schon wieder die nächste Frage zu stellen. Weil nur so erschließen sich die Kinder das Wissen dieser Welt – nicht durch Belehrung, sondern durch Erfragen. Diese Lust am Fragen machen wir aber sehr oft kaputt.
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Es gibt doch auch die Form des Lernens, die einem – zumindest zeitweise – nicht so große Lust macht, weil man sich eben ein bestimmtes Wissen ganz traditionell aneignen muss?
Das erscheint uns nur so, weil wir alle nichts anderes kennen. Aber das ist eine Vorstellung aus dem vorigen Jahrhundert. In Wirklichkeit ist es so, dass sich Menschen mit einer unglaublichen Beharrlichkeit neue Inhalte aneignen, wenn sie wissen, warum. Ein Fünfjähriger kann möglicherweise sämtliche lateinische Dinosaurier-Namen, obwohl er noch gar nicht richtig lesen kann. Stellen Sie sich einmal vor, Sie müssten das lernen. Oder ein älterer Schüler, der sich für Sonnenkollektoren interessiert und auch selbst einen solchen gebaut hat: Müssen Sie den antreiben? Das heißt: Die Vorstellung, dass man Kinder immer nur antreiben und andrücken muss, damit sie eine Leistung erbringen, die stimmt nicht. Allerdings führt sie dazu, dass zwei Jahre nach Schulabschluss weniger als zehn Prozent von dem übrig ist, was in den Jahren davor in die Kinder hineingetrichtert worden ist. Das Schlimmste, was die Schule im 21. Jahrhundert anrichten kann, ist, einem jungen Menschen die Lust am Lernen zu vermiesen.
Weil letztlich der Lernwille wichtiger ist als der Lerninhalt?
Ja. Denn in einer sich stark verändernden Welt wird sich nur noch derjenige zurechtfinden, der auch Lust hat, sich diese Welt immer wieder neu anzueignen. Das ist viel wichtiger als Lerninhalte – wo wir heute ja gar nicht wissen, was davon in 20 Jahren überhaupt noch Bedeutung haben wird. Aber einer der Lust am Lernen hat, der hat eigentlich alles, was er braucht. Der macht eine Bäckerlehre, nachher die Matura, geht vielleicht noch auf die Uni. Und er schafft das alles, weil es ihm Freude macht. Deshalb sollten wir bei unseren Kindern nicht kontrollieren, ob sie etwas gelernt haben. Wir müssten unsere Bemühungen darauf ausrichten, dass sie gerne lernen.
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Sich die Lust am Lernen bis ins Alter zu erhalten, fällt vielen schwer.
Weil ihnen die Erfahrung fehlt, wie man sich selbst, aus eigenem Interesse, mit Freude Wissen aneignet. Hat man aber solche Erfahrungen, bleibt die Lernlust bis ins hohe Alter. Ich kenne 85-Jährige, die sind noch genauso lernfreudig und wissbegierig wie aufgeweckte 15-Jährige. Das hat aber auch damit zu tun, ob man die Ausbildung gewählt hat, die einem das auch ermöglicht.
Da haben die Eltern einen großen Einfluss: Man muss den Kindern ihre Talente und Begabungen herauslocken. Das schafft man aber nicht, indem man sie von einer Frühförderveranstaltung zur nächsten schickt. Sondern das schafft man nur durch reden – und durch das unauffällige Beobachten von Kindern beim unbeschwerten Spiel mit anderen. Wenn Sie Kinder beobachten, die z. B. in der Sandkiste sitzen, können Sie oft schon ungefähr erkennen, wofür sie Talente haben. Das Spiel ist ihr richtiges Lernfeld. Nur leider lassen wir ihnen kaum noch Zeit dafür.
Kann ich mich als Erwachsener auch damit zum Lernen motivieren, auf diese Weise mein Risiko für eine Demenz zu senken?
Das liest man oft. Aber auch hier geht es nicht um Lernen alleine, sondern um die Freude am Lernen. Wer Freude am Lernen hat, hat auch Freude am Leben – und das ist mit Sicherheit ein großer Schutz vor Demenz. Denn jedes Mal, wenn man etwas Neues entdeckt, etwas Neues erlebt oder gestaltet hat, werden im Gehirn neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet. Und diese regen dann das Wachstum von Nervenzellen an, verfestigen bestehende Verbindungen zwischen den Nervenzellen, regen neue Verbindungen an. Das wirkt wie ein Dünger. Voraussetzung ist aber, dass sie das Gefühl haben, selbst etwas gut hinbekommen zu haben. Ohne diese Voraussetzung werden das schönste Lehrbuch und die beste Gedächtnistechnik nichts bewirken.
BUCHTIPP
Gerald Hüther: Mit Freude lernen – ein Leben lang. Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen. 224 Seiten, Vandenhoeck & Ruprecht, 20,60 €.