Zentrale Tests sind nicht objektiv
Von Ute Brühl
Die Bildungsstandards haben es offenbart: Wiener Hauptschüler sind schlechte Rechner. Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl reagiert: Bisher freiwillige Tests wie der Wiener Lesetest sollen für alle Schüler der vierten und achten Schulstufe verpflichtend werden. Offensichtlich haben viele Schüler die Aufgaben einfach nicht verstanden. Die Ergebnisse der Lesetests sollen in die Notengebung einfließen.
Ist das der richtige Weg, um die Kinder zu besseren Leistungen zu führen? Bildungswissenschaftler Stefan Hopmann sagt: „Nein. Screenings wie es Bildungsstandards oder Lesetests sind, sagen nur etwas darüber aus, wie sehr ein Wissen in einer Population verbreitet ist. Als individueller Leistungsbeweis taugen sie nicht.“
Im Gegenteil: „Auf diese Idee kommt nur jemand, der offensichtlich keine Ahnung von Tests hat“, kritisiert der Wissenschaftler. Die internationale Erfahrung zeigt, dass diese Tests enorme Kollateralschäden nach sich ziehen können: „In vielen Schulen werden die Kinder nur noch auf die Tests hintrainiert. Das geht auf Kosten der Tiefe und anderer Inhalte. Einige Lehrer werden versuchen, die schlechtesten Schüler aus ihrer Klasse zu drängen oder sie zumindest dazu anhalten, sich an den Test-Tagen krank zu melden. Und Lehrer werden vor allem Kinder, die im Mittelfeld sind, besonders fördern. Denn bei diesen ist sehr schnell eine Leistungsverbesserung zu erreichen, anders als bei den Leistungsstarken und -schwachen. Die werden dann vernachlässigt.“
Opfer bestrafen
Sollen die Tests abgeschafft werden? „Nein. Man kann durchaus testen, um zu sehen, was die Schüler in der Gesamtheit können. Sie sind auch eine gute Diagnosemethode, um zu sehen, wo der einzelne steht“, sagt Hopmann. „Sie dürfen aber nicht dazu verwendet werden, um zu bewerten. So werden die Opfer des Schulsystems auch noch für dessen Versagen haftbar gemacht.“
„Wir müssen die jungen Menschen früh fördern, am besten schon im Kindergarten.“ - Christiane Spiel
Die Bildungspsychologin Christiane Spiel meint, dass Lehrer solche Diagnosen benötigen: „Leider sind nicht alle dazu in der Lage, zu beurteilen, wo ein Kind steht und wo es Schwierigkeiten hat. Wenn der Pädagoge weiß, wo er ansetzen muss, kann er gezielter fördern.“
Wie man – nicht nur – das Lesen fördert, weiß die Wissenschaft: „Wir müssen früh fördern, am besten schon im Kindergarten“, sagt Spiel: „Da können die Kinder den Wortschatz einüben. Aber nicht nur den. Sie lernen dort vieles, was sie in der Schule benötigen: Sich konzentrieren zu können, in die Gruppe einfügen z.B.“
Einig sind sich die Experten darin, dass „Schulen, die in sozial schwierigen Regionen liegen, mehr Ressourcen benötigen.“ In Wien ist genau das Gegenteil passiert, wie ein ehemaliger Direktor einer Hauptschule im 16. Bezirk berichtet: „Früher bekamen wir für jeden außerordentlichem Schüler 0,42 Stunden pro Kind und Woche an Extrastunden. Das wurde gestrichen. Stattdessen bekamen wir einmalig einen 40-stündigen Kurs für acht Schüler genehmigt. Dabei haben wir 26 Schüler, die die Unterstützung gebraucht hätten.“ Wie die Wissenschaftler fordert auch der Mann der Praxis mehr Ressourcen für die leistungsschwachen Kinder: „Die Jugendlichen müssen ganztags in die Schule. Hier sprechen sie Deutsch, während sie zu Hause nur ihre Muttersprache hören – in der Familie und im Fernsehen.“
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Zeugnis
Jeder fünfte Wiener Volksschüler hat in seinem Abschlusszeugnis ein „Sehr Gut“ oder „Gut“ im Fach Deutsch erhalten, obwohl er massive Probleme beim Lesen hat. Das ergab eine Sonderauswertung der Wiener Lesetests, die im September dieses Jahres veröffentlicht wurde.
Ergebnisse
2011 und 2012 wurden die Wiener Schüler der vierten und achten Schulstufe getestet: 2012 hatten vier Prozent intensiven Förder- bedarf. 17 Prozent der Volks- und 18 Prozent der Hauptschüler hatten Förderbedarf. Die Ergebnisse haben sich im Vergleich zum Vorjahr verbessert.