Wirtschaft

Hannover ist Obamas letzte Chance

Der Nabel der Welt, am Sonntag rückt er einen Tag lang nach Hannover. Von dort kommen die Rockgruppe Scorpions und der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, aber der ist auch schon seit 300 Jahren tot. Was Hannover dann im November so richtig feiern will. Sonst gilt die 515.000-Einwohnerstadt eher nicht als Weltmetropole. Was also macht ein US-Präsident in Niedersachsens Hauptstadt?

Antwort: Die weltgrößte Industriemesse eröffnen, bei der die USA heuer Partnerland sind. Die Aufregung in Hannover ist groß. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wird Obama am Sonntagabend an der Seite von Kanzlerin Angela Merkel das unvermeidliche Band durchtrennen. Geplant ist, dass er beim Stand des österreichischen Hightech-Unternehmens TTTech Halt macht, an dem General Electric und Audi beteiligt sind.

Der Zuspruch sinkt

Obama will den Deutschland-Besuch aber auch nutzen, um ein letztes Mal die Werbetrommel für TTIP rühren, den umstrittenen Handels- und Investitionspakt zwischen der EU und den USA. Ein kräftiger Schubs wäre nötig, denn das Abkommen droht in der Dauerschleife zu landen. "Festgefressen" seien die Verhandlungen, hatte der deutsche Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel jüngst geurteilt – und ein Scheitern nicht ausgeschlossen.

Dabei haben die Verhandler ihre Schlagzahl erhöht. Ab Montag, 25. April, brüten sie in New York erneut über Textvorschlägen, es ist bereits die 13. Verhandlungsrunde. Dennoch läuft die Zeit davon, wenn der Vertragstext noch in Obamas Amtszeit, also bis Jänner 2017, fertig sein soll. Bevor das Abkommen in Kraft treten könnte, würden ohnehin noch Jahre ins Land ziehen.

Mittlerweile ist jedoch die Stimmung gekippt, und das sogar im Land der Exportweltmeister. Sprachen sich vor zwei Jahren noch 55 Prozent der Deutschen für TTIP aus, sind es heute nur 17 Prozent, ergab eine der Manipulation unverdächtige Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Zugleich stieg die Zahl der Gegner von 25 auf 33 Prozent. Für Samstag erwarten die NGOs Zehntausende Anti-TTIP-Demonstranten in Hannover. Und in den Niederlanden, traditionell Vorkämpfer des Freihandels, wollen Gegner nach dem erfolgreichen Referendum gegen das EU-Ukraine-Abkommen auch den USA-Pakt torpedieren.

Sogar in den Vereinigten Staaten wächst der Widerstand. Dort war TTIP bisher für große Teile der Bevölkerung ein Fremdwort – es wurde allenfalls mit dem ähnlich klingenden (und viel kritischer beurteilten) USA-Pazifik-Abkommen TPP verwechselt. Seit jedoch Donald Trump und Bernie Sanders im Wahlkampf den Freihandel lautstark für Jobverluste in den USA verantwortlich machen, schlägt auch Hillary Clinton kritischere Töne an.

Pendel schlägt um

Und all das zu einem Zeitpunkt, wo sich ohnehin viele Staaten abkapseln, viele Briten aus der EU raus wollen, nationale Strömungen an Zulauf gewinnen und die Reisefreiheit in Europa akut gefährdet ist. Schlägt das Pendel der Globalisierung jetzt um, werden Grenzbalken zwischen den Staaten runtergelassen? Handelsexperte Hosuk Lee Makiyama fände das fatal.

"Wir blicken auf 2000 Jahre Erfahrungen zurück, was es heißt, Grenzen zu schließen", sagt der Chef der Brüsseler Denkfabrik Ecipe zum KURIER. "Es hat sich in Theorie und Praxis als schädlich erwiesen." Für die USA und die EU sieht er nur ein Zeitfenster von 15 Jahren, um aus einer Position der Stärke Abkommen für einen offenen, fairen Handel zu vereinbaren. "2030 wird Europas Anteil an der Weltwirtschaftsleistung halbiert sein. Das bedeutet eine radikal verminderte Verhandlungsmacht."

Die Anti-TTIP-Kampagne tut oft so, als wäre der Handelspakt völlig neu. Tatsächlich sind die Verhandlungen mit den USA besonders ambitioniert, aber die EU hat bereits mit mehr als 30 Ländern Abkommen in Kraft und verhandelt zeitgleich eine Vielzahl neu.

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Unter anderem:

Mercosur

Jahrelang hatte Argentinien blockiert, jetzt soll es ernst werden. Anfang Mai kommen erste Angebote auf den Tisch. Mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela hat die EU 2015 Waren um 88 Mrd. Euro ausgetauscht.

Japan

Verhandelt wird seit 2012, die 16. Runde war im April. Ein Abkommen wäre ein wirklich großer Brocken: Es würde ein Drittel der Weltwirtschaft abdecken.

Indien

Der Auftakt war 2007, seit drei Jahren herrscht praktisch Stillstand. Ein EU-Indien-Gipfel Ende März in Brüssel brachte ebenfalls wenig Bewegung.

China

Brüssel verhandelt seit 2013 über ein Investitionsabkommen, das 26 bilaterale Vereinbarungen mit EU-Ländern ersetzen soll.

Bestehende Abkommen mit Mexiko, Türkei, Chile sollen erneuert werden. Vor kurzem neu abgeschlossen wurde beispielsweise mit Vietnam, Südkorea oder Kanada (CETA), worüber erst noch die Parlamente abstimmen müssen.

EU hinkt hinterher

Handelsexperte Hosuk Lee Makiyama (Denkfabrik Ecipe) sieht die EU dennoch im Hintertreffen. Die Abkommen bewirken nämlich, dass Handelsströme umgelenkt werden – an den nicht beteiligten „Outsidern“ vorbei.

Und da hätten die USA dank des Abkommens TPP mit 12 Pazifikanrainern wie Japan, Australien, Kanada, Vietnam oder Singapur (800 Mio. Konsumenten) die Nase vorn. TPP sei „das erste Abkommen, das Europa wirklich schadet“, sagt Makiyama. Die EU brauche den TTIP-Wachstumsschub schon allein deshalb, um die Einbußen aus diesem US-Pazifik-Pakt aufzuwiegen.