Wirtschaft

Pensions-Hickhack: Die Zahlen auf dem Prüfstand

Sie sind einer der Knackpunkte in den Verhandlungen zwischen den Geldgebern und der griechischen Regierung: die Kürzungen bei den Pensionen. Dabei schwirren widersprüchliche Zahlen durch den Raum - der KURIER bemüht sich um Aufklärung.

Die Chronologie der Debatte: Ursprung der Aufregung war das regelmäßige Pressebriefing des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dabei gibt es selten mehr zu hören als Worthülsen - umso bemerkenswerter war es, wie weit sich IWF-Sprecher Gerry Rice in Sachen Griechenland aus dem Fenster lehnte.

Die entscheidende, verblüffende Textpassage in der Übersetzung (hier das Original).

Gerry Rice, IWF-Sprecher, 11. Juni:

"Die Pensionen und Löhne machen 80 Prozent der gesamten griechischen Primärausgaben (ohne Zinsen, Anm.) aus. Es ist somit nicht möglich, dass Griechenland seine Mittelfristziele ohne Reformen erreicht - insbesondere bei den Pensionen.

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Ich denke, es wird von allen Seiten anerkannt, dass das griechische Pensionsschema, das System, nicht nachhaltig ist. Die griechischen Pensionsfonds erhalten jährlich Transfers aus dem Budget in Höhe von ungefähr 10 Prozent des BIP. Nun, nur zum Vergleich, im Rest der Eurozone sind das im Durchschnitt 2,5 Prozent des BIP. Die Standard-Pension in Griechenland ist fast auf demselben Niveau wie in Deutschland und die Menschen, wieder im Durchschnitt, gehen in Griechenland fast sechs Jahre früher in Pension als in Deutschland. Und das, wo sich der BIP-pro-Kopf-Zuwachs auf weniger als die Hälfte des deutschen Levels beläuft.

[...] Ich möchte aber betonen, dass die soziale Fairness und Ausgewogenheit etwas sind, das der IWF im Programm ganz von Anfang an betont hat. Und was die Pensionen betrifft, möchte ich sagen, dass aus sozialen Gründen die Grundpensionen, die die verwundbarsten Gruppen erhalten, geschützt werden."

Gleich hoch wie deutsche Pension?

Die Kernbotschaften:

1. Der Zuschuss zu den Pensionen aus dem Budget macht 10 Prozent des BIP aus.

2. Die griechischen "Standard-Pensionen" sind fast so hoch wie die deutschen.

3. Die Griechen gehen durchschnittlich um sechs Jahre früher in Pension.

Kann das stimmen?

Anfragen sowohl an den IWF als auch das griechische Finanzministerium von Freitag, auf welcher Datengrundlage diese Zahlen basieren bzw. wie die Abweichungen zu offiziellen Angaben zu erklären sind, blieben übrigens bis heute unbeantwortet. Gut; wenn die Prioritäten momentan anders gesetzt werden, wäre das verständlich.

Eine semi-offizielle Reaktion der griechischen Regierung gab es dann aber doch - und zwar über ein geleaktes inoffizielles Dokument ("non-paper"), dankenswerterweise ins Englische übersetzt vom Blogger Greek Analyst. Hier die entsprechende Passage ins Deutsche übertragen:

Griechisches "non-paper", 12. Juni:

"Die durchschnittliche Pension in Griechenland, aufgeteilt nach Kategorien, beträgt 664,69 Euro für die Hauptpensionen (main pensions) und 168,40 Euro für die Zusatzpensionen (auxillary pensions). Es ist eine Tatsache, dass 44,8 Prozent der Pensionisten (1.189.396 von insgesamt 2.654.784) eine monatliche Pension erhalten, die unter der fixen Armutsschwelle von 665 Euro liegt. Es sollte aber festgehalten werden, dass der Durchschnitt der Monatspensionen in Griechenland und Deutschland ungefähr derselbe ist.

In Griechenland werden, für die Abdeckung des Defizits bei den Pensionen, aus dem Budget 9 Prozent der Wirtschaftsleistung bereitgestellt (Herr Gery [sic] Rice spricht von 10 Prozent), während es in Deutschland 3 Prozent sind. Der Unterschied beträgt aber nur 1,5 Prozentpunkte, weil von den 9 Prozent des BIP nur 4,55 Prozent aus der Drittparteienfinanzierung kommen und die restlichen 4,45 Prozent eine staatlich finanzierte Subvention für die Abdeckung der Defizite im Pensionssystem darstellen.

Das durchschnittliche Pensionsantrittsalter beträgt bei Männern in Griechenland 63 Jahre, und bei Frauen 59. In Deutschland ist es ungefähr gleich hoch für Männer (63) und für Frauen 62 (Daten von der OECD, Pensionen auf einen Blick 2011). Herr Gerry Rice hat behauptet, das durchschnittliche Pensionsantrittsalter sei sechs Jahre höher als in Griechenland ..."

Zusammengefasst:

1. Das Papier aus griechischen Regierungskreisen bestätigt, dass die durchschnittliche Pensionshöhe ähnlich hoch ist wie in Deutschland. Da aber zugleich, wie betont wird, extrem viele Bezieher von Mindestpensionen darunter sind (unter der Armutsschwelle), lässt sich ableiten, dass die Spreizung sehr groß ist. Es muss also auch sehr hohe Pensionen geben. Das ist relevant im Hinblick auf die Beteuerungen des IWF, keine Einschnitte bei Mindestpensionisten anzustreben.

2. Die Angaben zu den Zuschüssen aus dem laufenden Budget für das Pensionssystem weichen geringfügig voneinander ab - neun Prozent bzw. zehn Prozent. Aus welchem Titel die Quersubventionierung erfolgt, ist für die Nachhaltigkeit des Budgets ziemlich irrelevant.

3. Eine drastische Diskrepanz gibt es, was das Pensionsantrittsalter anbelangt. Mit den OECD-Zahlen lässt sich die IWF-These, dass die Griechen sich fast sechs Jahre früher zur Ruhe setzen als die Deutschen, nicht rechtfertigen.

Papier Nummer drei - Pensionsreformen

Allerdings gibt es ein weiteres Papier der griechischen Seite, das zu der Verwirrung offenkundig beigetragen hat. Es handelt sich um 47 Seiten an Reformvorschlägen, die die griechische Regierung Ende Mai unterbreitet hat und die vom Tagesspiegel veröffentlicht wurden (andere Teile des Offerts sind inzwischen überholt).

Frühpensionen vor 62 Jahre, die bisher möglich waren, soll es künftig nicht mehr geben. Auf den Seiten 14 und 15 findet sich die Prognose, wie das durchschnittliche Pensionsantrittsalter schrittweise Jahr für Jahr steigen soll. Und zwar von 56,3 Jahre im Jahr 2016 auf 65,7 im Jahr 2026 - das betrifft den Öffentlichen Dienst - beziehungsweise von 60,6 Jahre (2016) auf 65,3 (2026) bzw. 67,0 (2036) - das betrifft die größte Sozialversicherung von (Privat-)Angestellten, IKA-ETAM.

Das Pensionsantrittsalter von 56,3 Jahren ist also nur die Prognose für Beamte im Jahr 2016.

Und noch einmal der IWF

So schließt sich der Kreis: Am 14. Juni hat sich auch noch IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard mit einem Blogeintrag zu Wort gemeldet. Der Tonfall ist deutlich konzilianter als jener von Gerry Rice einige Tage zuvor. Er fordert von beiden Seiten Bewegung, damit die Patt-Situation aufgehoben wird.

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Dabei wird auch von Griechenland ein Kompromiss in Sachen Pensionen verlangt. Die entsprechende Textpassage in der Übersetzung:

"Warum das Beharren auf die Pensionen? Pensionen und Löhne machen rund 75 Prozent der Primärausgaben aus; die anderen 25 Prozent wurden bereits bis auf den Knochen runtergeschnitten. Pensionsausgaben machen mehr als 16 Prozent des BIP aus, und die Transfers aus dem Budget in das Pensionssystem sind nahezu 10 Prozent des BIP. Wir glauben, dass es eine Verringerung der Pensionsausgaben von 1 Prozent des BIP (von 16 Prozent) braucht, und dass das möglich ist, während man zugleich die ärmsten Pensionisten schützt. Wir sind offen für alternative Wege, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auch bei Pensionen - aber diese Alternativen müssen sich ausgehen und die erforderliche Fiskalanpassung liefern."

Fazit: Raum für Kompromisse

Erstaunlich: Blanchard stellt noch einmal etwas andere Zahlen in den Raum (75 Prozent statt 80 Prozent bei Rice), er wiederholt die 10 Prozent, mit denen die Pensionen quersubventioniert seien - mit dem kleinen Zusatz "fast".

Das Fazit nach der Gegenüberstellung der Zahlen und Argumente lautet allerdings: Die Positionen der griechischen Regierung und des IWF liegen viel weniger weit auseinander, als es die öffentlich ausgetragene Polemik erwarten ließe.

Verbale Abrüstung und Kompromissbereitschaft vorausgesetzt, könnte man sich ohne Weiteres in der Mitte treffen. IWF und Co. müssten garantieren, dass die Kürzungen Bezieher von Mindestpensionen nicht treffen, umgekehrt sollte die Syriza-Regierung Einschnitte bei überdurchschnittlich hohen Pensionen nicht kategorisch verweigern.

Oder sind es diese Divergenzen tatsächlich wert, dass man einen Grexit riskiert - eine Situation, in der alle Seiten nur verlieren können?