Wirtschaft

Ein- und Ausatmen der Börsen nutzen

An 15 Marathons hat er schon teilgenommen. Für den am vergangenen Wochenende in New York bekam er keinen Startplatz. Schließlich ist Heiko Thieme schon 71. Schier endlose Ausdauer hat der aus Deutschland stammende Portfoliomanager und Anlageberater, der seit Jahrzehnten in New York tätig ist, wenn es um Finanzmärkte geht. Thieme über das Ein- und Ausatmen der Börsen, amerikanische Zinsen und den deutschen Sparkurs.

KURIER: Sie sind bekennender Optimist. Sehen Sie nicht trotzdem Crashgefahren?

Heiko Thieme: Ich bin rationeller Optimist, das heißt, ich kann das begründen. Crashes mit Kursverlusten von 40 Prozent in kurzer Zeit kommen relativ selten vor. Für die Jahre 2015 und 2016 sehe ich das nicht. Es sei denn, wir hätten Terrorismus oder Kriege.

Viele Börsen sind trotz Rückschlägen heuer gut gelaufen. Ist trotzdem eine Jahresendrallye drinnen?

Ja, es geht weiter. Wir kommen jetzt in die stärkste Börsenphase. Seit 1950 bis heute brachte die Zeit von Ende Oktober bis Ende April durchschnittlich 7,6 Prozent. Ich sehe keinen Grund, warum das nicht jetzt auch so sein sollte.

Also jetzt investieren?

Eigentlich ist es schon etwas spät, jetzt muss man schon etwas tüfteln. Man muss das Ein- und Ausatmen an den Börsen ausnützen und bei Korrekturen kaufen. Bis Ende des Jahres sind noch fünf Prozent Plus drinnen.

Der US-Dollar hat zum Euro deutlich gewonnen. Wo geht da die Reise hin?

Ich gehe von der Parität von 1:1 bis zum Jahr 2020 aus. Goldman Sachs sagt 2017, ich sage etwas später. Amerika ist zur Wachstumslokomotive der Industrieländer geworden. Durch das Schiefergas hat Amerika enorme Vorteile. Europäische Firmen denken um und bauen Produktionen in den USA auf.

Wann wird die US-Notenbank den Leitzins erhöhen?

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Das hängt vom Wirtschaftswachstum ab. Und das kann auch Fed-Chefin Janet Yellen, eine sehr kompetente Frau, nicht voraussagen. Mein Bauchgefühl sagt mir – ab Sommer, spätestens im Herbst. Ein Leitzins von 1,0 Prozent wird 2015 nicht erreicht sein. Bei den zehnjährigen US-Anleihen könnten wir nächstes Jahr einen Dreier vor dem Komma haben.

Das Kursniveau an der Wiener Börse hinkt heuer nach. Wie lautet Ihre Prognose?

Wien ist wirklich enttäuschend, das ist auf die Russland-Komponente zurückzuführen. Ich halte die Sanktionen gegen Russland für falsch. Russland muss als Partner gesehen werden, das Land aus den G8 auszuschließen, ist ein Riesenfehler. Für mich ist Wien unter den kleinen Börsen aber unter den interessantesten. Bis Ende des Jahrzehnts wäre eine Bombenüberraschung durchaus möglich. Wer sich Wien jetzt wohlwollend anschaut, macht sicher keinen Fehler.

Deutschland oder USA – wo sehen Sie an der Börse mittelfristig das größere Potenzial?

Beim Frankfurter DAX. Die deutschen Konzerne profitieren vom schwächeren Euro. Die Erträge von US-Konzernen mit Auslandsgeschäft leiden wiederum unter dem starken Dollar.

Haben Sie ein paar Tipps für Investoren, die deutsche Titel interessieren?

Ja, etwa Adidas, BASF, Deutsche Bank, Deutsche Börse, Heidelberger Cement, Lanxess oder Lufthansa. Von den US-Titeln IBM, wenn auch mit Einschränkung.

Die Lufthansa hat aber unter den Streiks gelitten ...

Ich empfehle sie zum Kauf, es ist eine gute Gesellschaft. Aber ich finde die Streiks widerlich, weil sie auf dem Rücken der Kunden ausgetragen werden. Wie auch den der Lokführer der Deutschen Bahn. Wenn mir zum Beispiel ein Seminar platzt, weil die Teilnehmer nicht anreisen können – wer zahlt mir denn das? Da muss man einen Mediator einsetzen. Und wenn das nichts hilft, stelle ich mich freiwillig zur Verfügung.

Wie stehen Sie zum Sparkurs der deutschen Regierung?

Deutschland sollte sich verschulden, wie es nur geht. Die sollten bis zu einer Billion Euro durch 30-jährige Anleihen aufnehmen und in die Infrastruktur stecken. Straßen und Brücken sind marod. Jetzt wäre eine günstige Gelegenheit, der Markt ist bereit und gibt Geld praktisch zum Nulltarif. Das Motto dabei: Nehmen, wenn alle geben wollen.

Wo sehen Sie noch Kaufgelegenheiten?

Bei Gold um die 1100 bis 1200 Dollar und bei Silber um die 16 Dollar. Und Werte wie die US-Bergbauunternehmen Newmont Mining und Freeport McMoRan sowie der kanadische Edelmetallproduzent Barrick Gold. Wenn ein fungibles Unternehmen um 70 Prozent gefallen ist, gibt es keinen Grund, nicht zu kaufen. Die Börse lebt von Übertreibungen. Und immer wieder steigt die Börse. So heißt auch mein neues Buch, das jetzt herauskommt.

Treffen der Profis: Wertpapierforum

Business Circle organisiert heuer zum 12. Mal das „Wertpapierforum“, die führende Informationsplattform für Profis aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Das Treffen findet am 27. und 28. November (Courtyard Vienna Messe, Wien) statt. Götterdämmerung oder Konjunkturerholung lautet diesmal der Arbeitstitel. Zu den Höhepunkten der Konferenz zählt die Keynote des Börseexperten Heiko Thieme, Chairman der American Heritage Management Corporation, New York. Beim Wertpapierforum ist Thieme schon das elfte Mal in Folge.

Heiko Thieme zählt zu den Analysten-Stars, gilt als Daueroptimist und er provoziert gerne. Sein Leitmotto: „Der Pessimist ist der einzige Mist, auf dem nichts wächst.“ Man kann „auch als Optimist einmal auf der negativen Seite sein, aber man darf den Überblick und die Weitsicht nicht verlieren“, sagt Thieme. Eine seiner weitsichtigen Fragen: „Gibt es in 30 Jahren Apple-Computer noch?“ Oder: „Wozu brauchen wir noch Banken?“

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Der Deutsche, Jahrgang 1943, wurde in Leipzig geboren und durchlief Ausbildungen in Deutschland, Schottland und den USA. 1970 wechselte er nach New York, wo er anfangs für eine Tochter der Deutschen Bank tätig war und sich später selbstständig machte. Im deutschsprachigen Raum ist er durch TV-Auftritte, Kolumnen sowie seinen Blog bekannt. Seit 1986 bespricht er täglich seine Börsen-Hotline. Zahlreichen Trainees bot er Einblick in die Finanzwelt, darunter Fernsehjournalist und Sachbuchautor Markus Koch.

Einer seiner Treffer: Vor einem Jahr hat er Apple zum Kauf empfohlen. Seither sei der Kurs um fast 50 Prozent gestiegen, betont er.
Thieme ist verheiratet und hat zwei Töchter und einen Sohn. Er hat an 15 Marathonläufen teilgenommen und es „juckt ihn schon noch irgendwie“, bei weiteren zu starten. Vielleicht auch in Wien.