Wirtschaft

Braucht Europa ein Freihandelsabkommen?

Europa in der Wohlfühlblase. Aber die Welt hat sich weitergedreht!", meint Hermann Sileitsch. "Klagen von Investoren hebeln die Demokratie aus!", kontert Franz Jandrasits. Die beiden Wirtschaftsjournalisten des KURIER über das Freihandelsabkommen.

Pro

Wer lauter schreit, hat Recht: So läuft die Debatte über TTIP derzeit ab. Die Europäer fürchten sich vor Chlorhühnern und Genmais, die Amis vor Schimmelkäse aus Frankreich. Alles andere verhallt ungehört. Dabei ist das Abkommen weit mehr: Die größten Wirtschaftsmächte schreiben die Blaupause für den künftigen Welthandel. Das birgt Risiken, keine Frage. Wer aber nichts als Gefahren sieht, sehnt sich ins Biedermeier zurück. Aufwachen, die Welt hat sich weitergedreht!

Wachstum muss Europa mit der Lupe suchen. Gute Ideen haben wir nicht, aber was richtig oder falsch ist, wissen wir genau: Handelsabkommen? Danke, nein. Schieferöl und -gas? Zu gefährlich. Russland? Wird mit Sanktionen zivilisiert. CO2-Ziele? Europa geht allein voran. Moralisch sind wir so auf der Siegerseite. Wirtschaftlich könnten wir in zehn Jahren erkennen, dass das ein großer Luxus war.

Aber in unserer Wohlfühlblase geht es uns eh wunderbar, besonders in Österreich. Drum dürfen wir, um Gottes Willen, nichts ändern, damit es immer so bleibt. Das ist nur leider ein bisserl naiv. Deshalb: Ja, Europa muss Chancen ergreifen. Das Handelsabkommen gehört dazu. Wenn der Vertrag auf dem Tisch liegt, hat das EU-Parlament ohnehin das letzte Wort. Manche Abgeordnete sagen aber jetzt schon „Nein“. Offenbar ohne zu wissen, wozu: Sind die Verhandlungen nicht angeblich vollkommen geheim?

Contra

Unter dem Strich scheinen die Auswirkungen von Nafta auf die US-Wirtschaft recht bescheiden gewesen sein.“ Zu dieser Bewertung des 20 Jahre alten Freihandelsabkommens Nafta zwischen Kanada, USA und Mexiko kommen nicht die Gegner des EU-USA-Handelsabkommens TTIP, sondern die Forscher des US-Kongresses. In den USA wurden nicht nur keine Jobs geschaffen, sondern hunderttausende Industriejobs verloren. In Mexiko wurden viele Kleinbauern durch Billig-Exporte von US-Mais ruiniert.

Die Befürworter von TTIP versprechen ebenfalls Wachstum und Jobs. Die EU erwartet 400.000 Jobs in 15 Jahren. Angesichts der 18 Mio. Arbeitslosen in der EU ein bescheidener Effekt.

Der Preis dafür ist zu hoch. Denn selbst wenn die EU-Standards in den Bereichen Umwelt, oder Lebensmittel – siehe Chlorhühner, gentechnisch veränderte Pflanzen – oder Konsumentenschutz nicht auf das niedrigere US-Niveau herunterverhandelt werden, wird es Abstriche von den höheren EU-Standards geben.

Die größte Gefahr ist das geplante Investitionsschutzabkommen. Wenn Investoren Nationalstaaten vor einem Schiedsgericht klagen können, weil eine Verschärfung von Umweltauflagen ihren Gewinn schmälern, wird die Demokratie ausgehebelt. Hohe Strafen würden die Vorteile aus dem Abkommen mit einem Schlag vernichten.

Das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten wird in den kommenden Monaten eines der großen Themen der EU-Politik sein. Für den designierten Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zählt der Abschluss der Verhandlungen zu den Prioritäten im "Regierungsprogramm" der Kommission für die nächsten fünf Jahre.

Nachdem im EU-Wahlkampf viel Kritik an TTIP geäußert wurde, stellt sich nun aber die Frage, ob das Abkommen überhaupt noch eine Chance auf Verwirklichung hat. Denn im EU-Parlament, das planmäßig 2015 über das Verhandlungsergebnis abstimmen soll, scheint die Stimmung gekippt – unter den Abgeordneten wird die Kritik immer lauter.

Verhandlungsstopp?

Neben den Grünen, die seit Längerem die Intransparenz der Verhandlungen anprangern und im Wahlkampf vor den Folgen des Abkommens – Stichwort: Chlorhuhn – warnten, zeigen sich nun auch die österreichischen Sozialdemokraten überaus kritisch. Delegationsleiter Jörg Leichtfried warnte am Mittwoch die EU-Kommission: Wenn sie den Abgeordneten nicht mehr Einblick in die Verhandlungen gewähre, "dann wird sich die Kommission eine blutige Nase holen, wie bei ACTA". Das Anti-Piraterie-Abkommen hat das EU-Parlament 2010 zu Fall gebracht.

Nach derzeitigem Stand "wäre es besser, man würde noch einmal von vorne beginnen zu verhandeln", sagt SPÖ-Mandatarin Karin Kadenbach; der laufende Prozess sei "nicht mehr zu reparieren". Leichtfried bekräftigt, dass es sich dabei nicht um eine rein österreichische Position handelt: Bei einer Abstimmung würde die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament derzeit gegen das Abkommen votieren.

Warten auf das Ergebnis

Bei der ÖVP will man hingegen das Resultat der Gespräche abwarten: "Es wird im Moment so getan, als ob es ein Ergebnis gibt. Entschieden ist nichts", sagt ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas. Elisabeth Köstinger, die für die Volkspartei im Agrarausschuss sitzt, verweist darauf, dass es klare Bedingungen für eine Zustimmung im Parlament gibt: Ein Absenken der europäischen Standards für Lebensmittel etwa "wäre inakzeptabel".

„Transatlantic Trade and Investment Partnership“, kurz TTIP: So heißt das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA, und das soll es bringen: Handelsbarrieren, etwa Zölle, zwischen den beiden Regionen sollen fallen. Die Zölle sind zwar niedrig, aber jede noch so kleine Senkung bedeutet Einsparungen. Zudem sollen Regeln vereinheitlicht werden. Firmen können sich damit leichter in beiden Märkten niederlassen. Durch einen wechselseitig liberaleren Marktzutritt erhoffen sich die Befürworter eine Ankurbelung der Wirtschaft, mehr Jobs und Wohlstand.

Etwa für Autos oder für Chemikalien sollen einheitliche Standards gelten, das würde auch die Kosten für Kontrollen für Importware senken helfen. Aber kein Staat ist gezwungen, die Regeln für im Land erzeugte Produkte zu ändern.

Bleibt der Standard?

Die strengen Gesundheits- und Sicherheitsstandards in den Bereichen Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz würden auf keinen Fall gesenkt, versichert die EU-Kommission. Fleisch von Tieren, die mit Hormonen behandelt wurden, bliebe damit verboten – ebenso wie das mit Chlor gereinigte Huhn. Die Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen wird – wie schon jetzt – die dafür zuständige EU-Behörde EFSA prüfen. Die Unabhängigkeit dieser Behörde wird von Verbraucherschützern allerdings immer wieder in Frage gestellt.

Nicht nur die mögliche Aufweichung europäischer Lebensmittelstandards wird befürchtet. Heftige Kritik hagelt es immer wieder auch daran, dass die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Transparenz schaut anders aus. Für die USA ist die Landwirtschaft die wichtigste Branche, die vom Abkommen betroffen ist.

TTIP-Gegner wollen daran ablesen können, dass die USA heftig dafür kämpfen werden, künftig doch umstrittene Lebensmittel nach Europa exportieren zu können.
Theoretisch könnte das Abkommen bis Ende 2015 unter Dach und Fach sein. Dann müsste es vom US-Kongress und vom Europaparlament ratifiziert werden. Unklar ist, ob das Abkommen in jedem einzelnen EU-Staat ratifiziert werden muss.

Was man unter einem "Chlorhuhn" versteht, können Sie hier nachlesen.