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Anpassung und Gehorsam

Marcel F. steht nervös vor der Jury. Nachdem er sich allen vorgestellt hat, zoomt die Fernsehkamera auf die Hose des 18-Jährigen. Ein Fleck wird sichtbar. Dieter Bohlen verzieht das Gesicht: „Haste dir in die Hose gepischert?“ 7,37 Millionen Menschen sehen zu dieser Zeit „Deutschland sucht den Superstar“. Peinliche Szenen, bei der Menschen vorgeführt werden, gehören zum Konzept der Show.

Der deutsche Medienwissenschaftler Bernd Gäbler veröffentlichte gerade seine Studie über Casting- und Realityshows. Im KURIER-Gespräch erklärt er: „Bohlen und Klum sind Vorbilder in ihrem Metier, die großen Autoritäten ihrer Shows. Sie sind hohle Idole, weil für Sie Selbstdarstellung und -vermarktung alles ist und Ihnen der Inhalt nichts bedeutet.“ Der Experte meint, die beiden würden nur Gehorsamkeit und Anpassung vermitteln. „Es wird in der Sendung minutenlang der unbedingte Wille beschworen, dann zum Schluss kommt Lob für die Veränderung. Nach dem Motto: Du sollst funktionieren, du sollst das tun, was wir dir sagen.“

Spott

Für Abtrünnige, die Bohlens Kritik nicht schlucken, hat er nur Häme und Spott übrig, analysiert Gäbler: „Auf die Schwachen wird draufgehauen und die anderen werden zu Stereotypen reduziert.“ Sprüche wie „Damit kannst du Kakerlaken ins Koma singen“ werden vom Publikum zwar als hart empfunden, kommen aber an. Der Experte verweist auf Umfragen, in denen Dreiviertel der jugendlichen Zuseher Bohlens Einschätzungen für richtig halten. Wer Bohlen als seine Lieblingsfernseh­figur nennt, meint, von ihm lernen zu können, wie man mit Freunden umgeht.

Jugendpsychologin Patricia Winkler ist nicht überrascht: „Jugendliche in der Pubertät befinden sich in einem Selbstfindungsprozess. Je nach Thema, das für sie gerade wichtig ist, wählen sie ihre Vorbilder.“ Als Vorbild, wie man es ohne Können ins Fernsehen schafft, gilt Daniela Katzenberger. Das Publikum hält die Kosmetikerin aus Ludwigshafen für glaubwürdig. Gäbler sieht in der Darstellerin der Doku-Soap „Natürlich blond“ etwas Neues: „Sie sagt: Ich kann weder singen, tanzen noch schauspielern, aber schaut auf mich, bleibt wie ihr seid und ihr werdet berühmt.“

Model-Jurorin Heidi Klum propagiert ihr Schönheitsideal strenger: „Du kannst schön sein mit Wille und Disziplin. Dabei belügt sie die Mädchen, denn nicht alle können das aus ihrem Körper machen“, sagt Bernd Gäbler. Szenen, bei denen sich die Nachwuchsmodels für das Fotoshooting einen toten Tintenfisch auf den Kopf setzen müssen, vermitteln eine klare Botschaft: „Wenn du mitmachst, bist du ein Profi, ansonsten fliegst du aus der Show.“
Das Prinzip, wie in Castingshows Leistung definiert wird, findet der Experte bedenklich. Im Alltag ist das Auswahlsystem laut Gäbler längst angekommen: Manche Wohngemeinschaften suchen ihre Mitbewohner per Casting.

Realität

Dass Castingshows selten halten, was sie versprechen, zeigen viele gescheiterte Karrieren. Auch die von ORF-Juror Sido gecastete Band „3punkt5“ klagte heuer im Magazin Biber über ihren Mentor: „Während Blockstars hat man sich um uns gekümmert, aber sobald die Songcontest-Vorausscheidung vorbei war, wurden wir fallen gelassen.“

Gäbler fordert ein Umdenken: „Auch wenn die Juroren netter sind oder es mehr Coaching gibt, ist dieses Format nicht reformierbar. Man muss Alternativen finden. Im Leben sollten andere Werte zählen: Können, Kooperationsfähigkeit, Mitgefühl.“
Auf Letzteres werden Bohlen und Klum verzichten, wenn sie ab Jänner 2013 wieder Teilnehmer casten. Denn für eine gute Quote braucht Bohlen keine guten Sänger. Es sind die Menschen, die sich fast vor ihm in die Hose machen, die das Publikum vor den Bildschirm locken.

KURIER: Wie sehen Sie Ihre Teilnahme bei „Deutschland sucht den Superstar“ 2011 im Nachhinein?
Marco Angelini: Ich bin sehr froh, dass ich das alles erleben durfte und habe so auch das Musikbusiness kennengelernt. Es ist definitiv ein Sprungbrett und eine Chance mit hohen Publicity-Effekt.

Dennoch bringen Castingshows kaum Musiker hervor, die sich länger halten können .
Ja, generell werden in Castingshows nicht die besten Musiker gezeigt. Sie wollen vor allem Quotenbringer auf die Bühne bringen. Bunte Charaktere, die die Menschen ansprechen. Wie die lustige Blondine oder den Österreicher in der Lederhose. Dabei wird den Jugendlichen ein falsches Bild vermittelt. Musik muss man lernen, von außen schaut es in der Show so aus, als ob jeder singen kann. Wichtig ist, sich mental vorzubereiten, du wirst an einem Tag medial gehypt und dann geht es schnell runter, dessen muss man sich bewusst sein.

Eigentlich sollten die zukünftigen Kandidaten wissen, worauf sie sich einlassen?
Man hört zwar immer, wie das dort läuft, aber man weiß trotzdem überhaupt nicht, auf was man sich einlässt. Ich war dort einer der Älteren und selbstbestimmter. Ich habe mir auch vom Sender nichts dreinreden lassen, habe versucht, so zu bleiben wie ich bin. Aber für Jüngere, die noch keine ausgereifte Persönlichkeit haben, kann das sehr gefährlich sein.

Wie stehen Sie eigentlich zu Dieter Bohlen?
Man kann seine Musik mögen oder nicht, aber er hat nun einmal in den 1980er-Jahren viele Platten verkauft. Davor habe ich Respekt. Als Menschen habe ich ihn persönlich nie kennengelernt. Ich will und kann auch nichts Schlechtes über ihn sagen.

Wie verlief die Zeit nach der Show?
Die Zeit danach sehe ich sehr kritisch. Es fehlte die Unterstützung. Man sollte die jungen Menschen professioneller führen.

Sie haben trotzdem nicht aufgehört, Musik zu machen. Wie sehen Ihre Karrierepläne derzeit aus?
Ich habe jetzt mein Medizin-Studium abgeschlossen, eine Plattenfirma in Berlin gefunden. Und ja, ich habe vor durchzustarten.