Rattenfänger
Von Wolfgang Winheim
Großereignisse dienen Medien dazu, um im Vorfeld Ungereimheiten im Gastgeberland anzuprangern. Das war bei Olympia von Moskau, Seoul (sollte 1988 laut Spiegel von den Nordkoreanern per Staudammsprengung überflutet werden), Athen, Peking bis Sotschi so; das galt besonders für Südafrika, wo für die WM 2010 (jetzt leer stehende) Fußballtempel gebaut wurden; das wiederholte sich bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine.
Dieser Hinweis auf Reporter-Tradition darf aber nicht als Versuch interpretiert werden, die sozialen Ungerechtigkeiten in Brasilien zu bagatellisieren.
Die WM 2014 ist die erste in Südamerika seit 36 Jahren, seit Argentinien 1978. Nur dort hatte der investigative Journalismus als Feuerwehr zu langsam reagiert. Denn: Erst lang nach der WM wurde bekannt,
dass allein eine zu wenig linientreue Meinung genügt hatte, um – gebrandmarkt als Terrorist – im Gefängnis zu landen.
dass von der Militär-Junta fast 30.000 Menschen verfolgt, verschleppt und wie Müll entsorgt worden waren;
dass sich nur drei Tormann-Ausschüsse vom River-Plate-Stadion entfernt ein Kerker befand, in dem nur an Spieltagen von Quälereien abgesehen wurde, weil die Schreie der Gefolterten nicht von Matchbesuchern gehört werden sollten.
Österreichs WM-Spieler staunten zwar, als ihre Militär-Eskorten bei der Fahrt zum Training Privatautos gnadenlos in den Straßengraben drängten. Ansonsten bekamen Hans Krankl und Co von den Brutalo-Methoden des Regimes nichts mit. Zu sehr waren sie – und leider auch wir Sportreporter – auf den Fußball fokussiert: Auf Mini-Skandälchen, als die Kicker-Bräute nächtens das ÖFB-Camp in Moreno nicht verlassen wollten. Oder auf das 1:5 gegen Ernst Happels Holländer. Und auf das 3:2 in Cordoba.
In Brasilien 2014 indes können ehemalige wie aktuelle Stars dem empörten Volk öffentlich recht geben. So nennt Romario Regierung und FIFA eine Bande korrupter Ratten. Der Ex-Weltmeister wird nicht einmal wegen Ehrenbeleidigung geklagt. Demokratie pur oder schlechtes Gewissen?