"Milliarden für WM, Volk wird vergessen"
Von Walter Friedl
Sie wohnt in einer der gefährlichsten Gegenden im Großraum der brasilianischen Millionenstadt Rio de Janeiro. "Drogengangs haben dort das Sagen, es gibt viel Gewalt und zahlreiche Tote. Ich wurde schon überfallen, meine Schwester auch", erzählt Kelly Cruz Araujo. Die Zwölfjährige steht täglich um drei Uhr früh auf, um ins Zentrum der Küsten-Metropole zu gelangen. Dort besucht sie eine Zirkusschule – diese ist Teil eines Projekts, mit dem Kinder von der Straße gebracht und den Rechten von Buben und Mädchen zum Durchbruch verholfen werden soll.
"Ich brauche vier Busse, die alle knallvoll sind, und vier Stunden für den Weg aus meinem Viertel Duque de Caxias", so Kelly. Das macht 28 Reais pro Tag (rund neun Euro), hochgerechnet auf einen Monat ergibt das 660 Reais (220 Euro). Zum Vergleich: Der staatliche Mindestlohn beträgt 720 Reais (240 Euro). Genau mit diesem muss die Familie der Zwölfjährigen das Auslangen finden, "meine Mutter arbeitet sieben Tage die Woche und ist eine echte Kämpferin", sagt Kelly anerkennend. Doch ohne Sozialhilfe würde sich das alles nie ausgehen, muss sie gestehen.
Es sind diese Horror-Kosten für den öffentlichen Verkehr, der noch dazu miserabel organisiert ist, die die Proteste im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft befeuern.
"Fairplay" gefordert
"Es fehlen bei uns auch so viele Ärzte, und das Sicherheits- und Bildungswesen ist vernachlässigt", betonte Jessica Adriane Santos Ferreira, 14, bei einem Pressegespräch am Montag in Wien. Die beiden Mädchen waren auf Einladung der Initiative "Nosso Jogo" in der Bundeshauptstadt. Dieser Zusammenschluss von NGOs fordert vor dem Anstoß zur WM Kinderrechte ein, "Fairplay" für die Kleinsten also (siehe dazu auch kiku.at).
Denn "wir haben gar nichts von der WM. Sie sollte eigentlich für alle Brasilianer sein, ist sie aber nicht", ärgert sich Jessica. Und Kelly ergänzt: Der sportliche Groß-Event "kostet Milliarden, doch das Volk wird vergessen". Der 34-jährige, aus São Paulo stammende Fabio Santos da Silva Marques, der in Österreich beim Wiener Oberligaklub Union Mauer kickt und Jugendtrainer ist, nennt dazu konkrete Zahlen: "In Brasilien wurden neun Milliarden Euro vor allem für die Stadienbauten ausgegeben. Das ist deutlich mehr als bei den WMs in Deutschland und Südafrika, wo man mit 3,5 Milliarden und 3,9 Milliarden Euro ausgekommen ist."
Deswegen branden immer wieder Proteste auf, an denen Jessica gerne teilnehmen würde, "aber meine Mutter erlaubt das nicht". Auch würde sie liebend gerne eines der WM-Spiele sehen, "doch das ist viel zu teuer".
Tipp: Von 6. bis 8. Juni veranstaltet "Nosso Jogo" bei freiem Eintritt auf dem Wiener Karlsplatz ein Brasilien-Fest mit Musik- und Tanzworkshops sowie jeder Menge brasilianischer Bands. Auf dem "Mercado Central" gibt es brasilianische Speisen und Getränke. Zudem können Produkte aus Brasilien gekauft werden.