Thema/1914

Schlafwandelnd in den Krieg

Der deutsche Kaiser bereitet gerade seine Yacht „Meteor“ auf eine Segelregatta an der Nordseeküste vor, als er die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo erhält. Er reist umgehend nach Berlin zurück, „um die Sache selbst in die Hand zu nehmen und den Frieden in Europa zu bewahren“.

Der französische Präsident legt das Telegramm mit der Mordnachricht zur Seite und schaut sich an diesem 28. Juni ungerührt einen Grand-Prix auf der Rennbahn Longchamp in Paris zu Ende an. In den Zeitungen verdrängt am nächsten Tag eine Sex & Crime-Story um die Frau des früheren Regierungschefs Caillaux das Attentat zur zweitwichtigsten Nachricht.

Und der Außenminister Italiens, dessen Bevölkerung die Bluttat teils bejubelt, bemerkt: „Das Verbrechen ist abscheulich, aber der Weltfrieden wird es nicht beklagen.“

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37 Tage später befindet sich Europa im Krieg. Er wird 20 Millionen Menschenleben kosten. Er wird Großmächte aufgelöst zurücklassen und die geopolitische Landkarte neu zeichnen. Und er wird „die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts sein, der Große Krieg, aus dem sich alle folgenden Katastrophen ergaben“, wie der amerikanische Historiker Fritz Stern schrieb.

Phase der Entspannung

Aber wie konnte es dazu kommen? In einer Welt, die zwar auch von Rivalitäten und Bündnis-Pakten geprägt war, die aber mit Modernisierung und globalem Handel in „eine erste Phase der Entspannung eintrat“, wie der australische Historiker und Cambridge-Professor Christopher Clark schreibt.

Die gängige These zur Kriegsschuld kennt Deutschland als Hauptverantwortlichen. Drängten nicht Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Hollweg Österreich-Ungarn zu einem raschen Losschlagen gegen Serbien, das von Wien als Drahtzieher des Attentats vermutet wurde? Sagten sie der Habsburger-Monarchie nicht ihre bedingungslose Unterstützung zu? Erklärte nicht Deutschland nur eine Woche nach der Wiener Kriegserklärung an Serbien dem russischen Zarenreich den Krieg? Die lange sakrosankte Geschichtssicht des Hamburger Historikers Fritz Fischer sieht dahinter die Weltmachtambitionen Deutschlands, das seit 1912 auf die Herbeiführung eines europäischen Krieges hingearbeitet habe.

Doch die These bröckelt. Vor allem Clark bringt sie in seinem epochalen Werk „Die Schlafwandler“ mehr oder weniger zum Einsturz. So unterschiedlich er die Reaktionen auf das Attentat in Sarajewo beschreibt, so vielschichtig sind für ihn die Ursachen für den Krieg.

Mit einer bestechenden Beschreibung der Vorkriegszeit in Europa, gestützt auf unzählige Quellen und Archive, belegt er, wie alle europäischen Mächte, Österreich-Ungarn und Deutschland, Frankreich, England und Russland, in diesen Krieg hineingerutscht sind, an den Entwicklungen beteiligt waren. Und legt ein faszinierendes Puzzle aus Imperialismus, Nationalismus, Rüstung, Hochfinanz, von Bündnissen und fahrlässigen Fehleinschätzungen, ja auch von Charakterprofilen handelnder Personen (etwa des Kriegstreibers und Generalstabschefs Conrad von Hötzendorf, der als Kriegsheld auch seine vergebene Angebetete gewinnen wollte – so profan kann Geschichte sein).

Clark stellt nicht die Frage nach dem „Warum“ und dem Schuldigen. Er schildert das „Wie“ der Vorkriegszeit. „Wir müssen weg vom James-Bond-Muster, in dem es einen Bösen und einen Guten gibt. Sie können alle diese Staaten als Bösewichte sehen. Sie sind aggressiv, beutegierig, kolonialistisch, paranoid, sie zeigen Stärke, weil sie sich schwach fühlen“, sagt Clark der FAZ.

Entzauberter Mythos

„Es stimmt nicht, dass Deutschland einen Krieg gegen eine andere Großmacht plante.“ Gewiss habe Berlin seinen imperialen Platz gesucht, aber in kleinen und unbedeutenden Schritten. Dass es England bis zu Beginn des Jahrhunderts wirtschaftlich überholt hatte, hat wiederum dort eine Deutschlandphobie ausgelöst. (Für den britischen Historiker Niall Ferguson ist übrigens der Kriegseintritt Englands einer der Hauptgründe für den Weltkrieg.) Die deutsche Diplomatie habe das Balkanszenario nicht verstanden und auf einen lokal begrenzten Krieg gehofft. Nicht Deutschland, sondern Russland habe als erster Staat eine Generalmobilmachung ausgerufen.

Gleichzeitig entzaubert er den Mythos, dass die bosnischen Serben von der Habsburger-Monarchie unterdrückt worden seien und das alleinige Ursache für die Schüsse von Sarajewo war – im Gegenteil: Seit der Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908 sei dort eine gewisse Prosperität entwickelt worden. Der Sprachen- und Regionenkonflikt in der Monarchie ist für Clark vernachlässigbar – das Reich sei nicht vor dem Zerfall gestanden, sondern habe Wohlstand und Wachstum generiert. Es hätten sich auch mehr Nationalitätenrechte unter dem Thronfolger angedeutet. Lediglich Kaiser Franz-Josef sei ein „Faktor der Trägheit“ gewesen, der sich von der Realität entfernte.

Serbiens Nationalismus

Vor allem aber ist das Attentat von Sarajewo für Clark weit mehr als nur der Anlass, der Europa in den Krieg „schlafwandeln“ ließ. Clark schildert präzise und spannend wie in einem Krimi die Genesis des Attentats – beginnend beim grausamen Mord am (noch Österreich-freundlichen) serbischen König Alexander und seiner Frau durch Verschwörer der Armee 1903. Von da an erstarkte der alte serbische Nationalismus mit dem Ziel der Vereinigung aller Serben in den benachbarten Regionen. Das panslawistische Untergrundnetzwerk „Schwarze Hand“ lenkte Armee und Geheimdienst, die Brutalität serbischer Untergrundkämpfer in den beiden Balkankriegen vor dem Weltkrieg ist legendär. Dass Belgrad von den Attentatsplänen in Sarajewo aufgrund der engen Verstrickung mit dem Netzwerk wusste, steht für Clark fest.

Der serbische Nationalismus auf dem Balkan ist für den Historiker, der Parallelen zum brutalen serbischen Nationalismus der Neuzeit zieht (Srebrenica), ein historischer Faktor, „ohne den es nicht zum Ersten Weltkrieg gekommen wäre“. Und ein Mahnmal dafür, wie lokale Krisen Auslöser für Konflikte zwischen Großmächten sein können.

Morgen: Der Erste Weltkrieg ist die Wurzel vieler bis heute anhaltenden Konflikte.