Sport/Wintersport

Warum Skispringen nur mehr auf die krumme Tour funktioniert

Anton Innauer muss es in seiner Skisprung-Seele wehtun, wenn er der heutigen Generation auf die Beine schaut. Stilikone und Ästhet, wie der Vorarlberger nun einmal war. Innauer hatte seinerzeit als erster Springer fünf Mal die Höchstnote 20,0 erhalten, der formvollendete Telemark des Olympiasiegers von 1980 gilt als unerreicht.

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Was inzwischen alles als Telemark durchgeht, wäre zu Innauers Zeiten wohl als Kacherl gewertet worden. Die Skispringer von heute verdrehen bei der Landung unnatürlich die Beine, kaum jemand bekommt die Skier flach auf den Boden, immer wieder endet das Manöver im Schnee. „Es sieht teilweise sehr unbeholfen aus“, sagt Innauer. „Aber man muss auch sagen: unverschuldet unbeholfen.“

Lange Verletztenliste

Die heutigen Skispringer können gar nicht anders. Selbst wenn sie es wollten, das Material erlaubt keine vollkommenen Telemarks mehr, wie man sie früher bewunderte. Mit den neuen Schuhen, den modernen Bindungssystemen und den klobigen, unbequemen Keilen, die sich die Athleten in die Schuhe stopfen, lässt es sich zwar leichter und weiter fliegen – dafür braucht ein Adler jetzt bei der Landung X-Beine und hat große Probleme, auf den Füßen zu bleiben. „Es drückt einem die Knie nach vorne, das sind inzwischen wahnsinnige Belastungen“, sagt Österreichs Cheftrainer Andreas Felder.

Die schweren Knieverletzungen haben im Skispringen stark zugenommen, die Liste der Sportler, die sich auf der Schanze das Kreuzband gerissen haben, ist lang: Andreas Wellinger, Carina Vogt, Severin Freund (alle GER), Anders Fannemel, Thomas Aasen Marken (NOR), Kombinierer Mario Seidl hat es 2019 sogar gleich zwei Mal erwischt.

„Dieses System aus Ski, Schuh und Bindung hat die Flugphase zwar sicherer gemacht, aber wir haben das Problem bei der Landung. Das ist nun einmal Fakt. Dieser Sprungski ist nicht zum Skifahren gemacht“, sagt FIS-Direktor Walter Hofer.

Diese Fehlentwicklung nahm schon 2010 ihren Lauf. Simon Ammann (SUI) war bei den Winterspielen in Vancouver mit einer Bindung aufgetaucht, die das Skispringen revolutionieren sollte. Statt mit einem flexiblen Band waren Schuh und Bindung mit einem stabilen, gebogenen Metallstab verbunden. Das ermöglichte ihm eine bessere Skiführung in der Luft – und damit mehr Auftrieb.

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Die beiden Goldmedaillen sollten Ammann Recht geben, längst machen es alle Skispringer auf die krumme Tour und verwenden den gebogenen Bindungszapfen, den übrigens ein Österreicher entwickelt hat. Inzwischen sind die Skispringer sogar noch einen Schritt weiter gegangen und verstärken ihre Schuhe mit massiven, harten Keilen. Das schränkt die Bewegungsfreiheit ein und ist auch höchst schmerzhaft, aber im Kampf um jeden Meter ist den Sportlern jedes Mittel recht. Nach dem Motto: Gut Ding braucht Keile.

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Keine Keile

„Man kann es mit freiem Auge sehen, dass die Keile bei einigen Springern extrem dick geworden sind“, sagt Andreas Felder. Sein Menschenverstand sagt ihm zwar, dass sich das Skispringen gerade in die falsche Richtung bewegt, „aber wenn du dabei sein willst, dann musst du da mitmachen.“

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Immerhin scheint man rund um den Schanzentisch den Ernst der Lage erkannt zu haben. Da fast alle Nationen von schweren Verletzungen betroffen sind, herrscht breiter Konsens, dass es neue Materialbestimmungen braucht. Ein Vorschlag kommt von ÖSV-Direktor Mario Stecher: „Vielleicht sollte man diese Keile in den Schuhen komplett verbieten und in Zukunft auf einen geraden Bindungsstab zurückgreifen.“

Anton Innauer verfolgt die aktuellen Material-Debatten übrigens mit großem Interesse. „Hier wird nicht weggeschaut. Das zeigt mir, wie gut die Skisprungkultur entwickelt ist. Das ist der große Unterschied zum alpinen Skisport, dort wird das Problem der Kreuzbandverletzungen immer noch ignoriert.“