Sport/Wintersport

Phänomen Hirscher: Fünf Gründe für fünf große Kugeln

Marcel Hirscher schreibt Skigeschichte. In der 50. Saison des alpinen Weltcups hat der 27-Jährige Salzburger seinen fünften Weltcup-Gesamtsieg in Serie bereits zwei Wochen vor dem Finale sichergestellt – und mit seinem Rennsieg in Kranjska Gora zur Draufgabe auch die kleine Kristallkugel in der Disziplinenwertung Riesenslalom vorzeitig gewonnen. Bei extrem heiklen Bedingungen stoppte Hirscher mit zwei Laufbestzeiten die Riesenslalom-Erfolgsserie des Franzosen Alexis Pinturault (am Samstag Zweiter) und setzte sich im Gesamtweltcup von Henrik Kristoffersen (Dritter) entscheidend ab.

Der norwegische Torlaufwunderknabe Kristoffersen müsste bei den Speedrennen in Norwegen am nächsten Wochenende punkten, um Hirscher noch nahe kommen zu können. Kristoffersen wird diese Mini-Chance nicht wahrnehmen, sondern in den Alpen bleiben. Dort, wo Hirscher alias Mister Nimmersatt sich einen persönlichen Punkterekord zum nächsten Ziel gesetzt hat. Derzeit verfügt Hirscher über 1525 Zähler. Kristoffersen über 1192.

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Die Geheimnisse des Dominators

Vier Mal wird Hirscher in dieser Saison noch starten: Am Sonntag beim Spezialslalom in Kranjska Gora und beim Finale in St.Moritz in Riesenslalom, Slalom und ... im Super G. In jenem Bewerb, in dem Hirscher, der Torlaufspezialist, in diesem Winter den bislang einzigen österreichischen Sieg in einer Speeddisziplin errungen hat. Das sind neben skitechnischer Extraklasse die fünf Hauptgründe für die fünf Weltcup-Gesamtsiege, für die fünf großen Kristallkugeln in seiner Sammlung:

Fitness:

Hirscher war seit 2011, seit ihm in Hinterstoder ein Loch in der Piste zum Verhängnis geworden war, nie ernsthaft verletzt. Im Gegensatz zu seinen schärfsten Weltcup-Rivalen, die – wie Beat Feuz, Kjetil Jansrud und heuer Aksel Lund Svindal – immer wieder länger ausfielen. Dank hartem, individuellem Konditionstraining beim Deutschen Gernot Schweizer und viel Motocross-Fahren ist das 1,73 Meter große, schmächtige Bürschchen zum Modellathleten geworden.

Konstanz:

Hirscher fiel im Riesentorlauf in den letzten 42 Weltcup-Rennen kein einziges Mal aus. Hinter den Erwartungen bleibt er nur dann, wenn er gehandicapt ist – wie zuletzt im Februar während der Asien-Tournee durch eine starke Verkühlung.

Mentale Stärke:

In entscheidenden Phase behält Hirscher stets die Nerven, wie bei der Heim-WM in Schladming 2013, als er am Schlusstag noch Slalom-Weltmeister wurde. Diese Saison ließ er sich weder durch den Diebstahl seiner Siegerskier in Alta Badia, noch durch eine Drohne, die unmittelbar hinter ihm in Madonna auf die Piste krachte und auch nicht durch eine völlig beschlagene Brille beim Nachtslalom in Schladming entscheidend aus dem Rhythmus bringen.

Umfeld:

Hirschers exklusives Betreuerteam mit Skitrainer Mike Pircher, Atomic-Servicemann Edi Unterberger, Trainervater Ferdinand Hirscher, Pysiotherapeut Alexander Froeis und PR-Mann Stefan Illek wird von ÖSV-Chefcoach Andreas Puelacher konfliktfrei arbeiten gelassen.

Akribie:

Der Perfektionist überlässt speziell bei der Materialabstimmung oder bei Reiseplanungen nichts dem Zufall. Das macht den Seriensieger für seine Umgebung nicht immer pflegeleicht – glaubt Hirscher. Selbstkritisch bedankte er sich nach seinem Triumph in Kranjska Gora am ORF-Mikrofon bei den Eltern, Bruder Leon und Freundin Laura, "dass ihr mich aushalten müsst".

Ein Salzburger schreibt Ski-Geschichte neu:

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Zum fünften Mal in unterbrochener Reihenfolge Gesamtweltcupsieger! Das gelang vor Marcel Hirscher noch keinem Läufer. Die Leistung ist in der Freiluftsportart Ski höher einzustufen als so mancher von Wetter begünstigter Olympia- oder WM-Sieg. Trotzdem bedeutet Hirschers Triumph noch lange nicht, dass der alpine Ausnahmekönner auch heuer Sportler des Jahres wird. Fußballstar David Alaba oder Tennisspieler Dominic Thiem oder Golfpro Bernd Wiesberger haben bei wahlberechtigten Journalisten bessere Karten, weil Skierfolge in Österreich als selbstverständlich gelten. Sind sie aber nicht.

Wie groß war das öffentliche Gejammer gewesen, als das Warten auf den ersten österreichischen Weltcupsieger seit Karl Schranz (1970) von Jahr zu Jahr (= 28 Saisonen lang) prolongiert wurde;

als der Gesamtweltcupsieg medial als das wichtigste Ziel im österreichischen Sport hingestellt wurde;

als Ski-Trainer fast ähnlich häufig wie in der Kicker-Branche gefeuert wurden;

und als der Vorarlberger Marc Girardelli, dessen Trainervater sich mit dem ÖSV überworfen hatte, für Luxemburg startend, der gesamten Skiwelt um die Ohren fuhr.

Insgesamt fünf Mal hat auch Girardelli, der sich seine kurzsichtigen Augen lasern ließ wie 22 Jahre später Hirscher, den Weltcup gewonnen. Allerdings nicht in Serie wie jetzt der Salzburger.

Marc Girardelli war einer der Ersten, der via ORF Hirscher gratulierte. Dessen Leistung sogar als "noch größer" würdigt als einst seine eigene.

Aus dem unberechenbaren, oft isolierten Ski-Solisten ist ein umgänglicher, freundlicher Familienvater geworden. Dem nur ein bissel wehtut, dass das Verhältnis zu seinem Papa Helmut Girardelli nicht mehr das innigste ist. Aber das ist kein Einzelschicksal. Auch zwischen Hansi Hinterseer und seinem Olympiasieger-Vater Ernst, der Hansis erster Trainer war, soll nach so vielen einstigen gemeinsamen Schneetagen längst Eiszeit herrschen.

Die Beziehung zwischen Marcel Hirscher und dessen Vater, den er gern Ferdl nennt, indes könnte besser kaum sein.

Ferdinand Hirscher, 60, testet Marcels Ski. Korrigiert stilistische Mängel im Fachgespräch. Auch gibt es kein Überseerennen, vor dem Marcel nicht mit dem Papa telefoniert. In Europa ist der ehemalige Landescupläufer ohnehin stets vor Ort. Wie auch in Kranjska Gora. Nur groß reden und feiern ist des Ferdls Sache nicht. Auch am Samstag raste er – wie schon am Vortag nach dem ersten Riesenslalom – sofort wieder 180 Kilometer im Auto zur Skischule nach Annaberg im Lammertal heim. Um am Sonntag wiederzukommen. Hauptsach’, alle fahren auf seinen Marcel ab.