Nach langem Leidensweg: Der silberne WM-Lohn für ÖSV-Ass Ortlieb
Von Christoph Geiler
Müsste man Nina Ortlieb mit einem Wort beschreiben, dann drängt sich unweigerlich ein Attribut auf: nüchtern. Die 26-Jährige wirkt dermaßen aufgeräumt und pragmatisch, dass sie selbst im Augenblick ihres größten Erfolges nie Gefahr lief, die Fassung zu verlieren oder von den Emotionen übermannt zu werden.
Gut möglich, dass es sie sonst auch gar nicht mehr als Rennläuferin geben würde. Ohne diesen Wesenszug und den nüchternen Zugang. Wäre sie etwa ein aufgewühlter Mensch, der sich von Emotionen leiten lässt und sich alles zu Herzen nimmt, dann hätte sie wohl längst hingeschmissen. Hinschmeißen müssen. Angesichts ihrer Krankengeschichte, die vermutlich eine der längsten und schmerzvollsten im ganzen Skizirkus ist. Ob das denn stimme mit den 18 Operationen, wurde Ortlieb nach ihrer Fahrt zu WM-Silber in der Abfahrt gefragt. „Ich bin eine schlechte Lügnerin“, sagte die Oberlecherin. „Es sind schon 19.“
Eingriff Nummer 19 hatte Ortlieb erst wenige Tage vor der Weltmeisterschaft über sich ergehen lassen müssen. Von ihrem heftigen Sturz Mitte Jänner in Cortina hatte sie neben einer Gehirnerschütterung auch ein großes Hämatom an der Hüfte davongetragen, das operativ behandelt werden musste.
Knappe Angelegenheit
Wenige Stunden vor der WM-Abfahrt hatte Ortlieb erst die OP-Fäden rausbekommen, es war lange Zeit auch nicht klar, ob sie überhaupt beim Saisonhöhepunkt dabei sein kann. „Es war nicht klar, ob es klappt. Ich bin vor einer Woche das erste Mal wieder auf den Skiern gestanden“, berichtete sie.
Viel schlechter hätte eine Vorbereitung auf eine WM nicht laufen können. Denn Ortlieb musste sich nicht nur vom Abflug in Cortina erholen, sie hatte auch noch Ausfälle beim Heimweltcup in St. Anton zu verarbeiten. „Wenn man sich nur den letzten Monat anschaut, dann ist die Leistung noch zehnmal höher einzuschätzen“, sagt Papa Patrick Ortlieb, der zugibt: „Das war heute nervenaufreibender, als wäre ich selbst gefahren.“
Tatsächlich hatte nach der Fahrt der Nummer 5 noch wenig auf die nächste österreichische Medaille hingedeutet. Nina Ortlieb lag da vier Hundertstelsekunden hinter der Schweizerin Jasmine Flury, der späteren Weltmeisterin, und die Topstars waren allesamt noch oben. „Ich habe mich im ersten Moment im Ziel über meine kleinen Fehler geärgert und hätte nicht damit gerechnet, dass keine mehr schneller ist als ich“, sagte Ortlieb.
Eine große Belohnung, Bestätigung und Entschädigung sei diese Silbermedaille jetzt für sie, meinte die 26-Jährige. Denn natürlich hatte sie sich nach den vielen Operationen gefragt: „Schafft man es noch einmal? Ist es das wert?“
Große Leidenschaft
Sie war aber dann nie so weit, tatsächlich alles hinzuschmeißen. „Ich hatte in mir drinnen immer das Gefühl: Ich kann noch mehr, ich habe noch nicht alles gezeigt. Und außerdem mache ich das einfach auch brutal gern.“
Diese Silbermedaille von Nina Ortlieb ist auch für die französischen Journalisten eine große Geschichte. 1992 wurde Papa Patrick Ortlieb nur ein Tal weiter Olympiasieger in der Abfahrt, Nina Ortlieb bezeichnete sich bei der Pressekonferenz selbst als „Viertelfranzösin.“ Ihr vor zwei Jahren verstorbener Opa Guy stammt aus dem Elsass und kam als Koch an den Arlberg. „Deshalb haben wir bei uns daheim im Hotel noch heute Schnecken auf der Mittagskarte“, erzählte Ortlieb.