Klassen-Kampf bei den Paralympics: "Leute wie ich werden aussterben"
Von Stefan Berndl
"Im Rollstuhltennis gibt es keine Fairness". Was hart klingt, ist für viele paralympische Athletinnen und Athleten seit Jahren Realität. Nico Langmann weiß, wovon er spricht. Der 27-Jährige startet am Freitag gegen den Koreaner Hang Sung-Bong in seine bereits dritten Paralympics, Langmann will es erstmals in die zweite Runde schaffen.
Der Wiener ist einer von 48 Männern in der Open Division, die größere von zwei Klassen im Rollstuhltennis. Hier starten nahezu alle Athleten unabhängig von Ihrer Beeinträchtigung in derselben Klasse, nur Sportler mit einer Einschränkung von drei oder mehr Extremitäten werden in der deutlich kleineren Quad Division (15 Spieler) zusammengefasst.
Ungleiches Tennis-Duell
Warum die offene Klasse nicht fair ist, beschreibt Langmann so: "Ein Spieler, der am Unterschenkel amputiert ist, aber die komplette Rumpfmuskulatur und Stabilität hat, spielt gegen jemanden wie mich, der vom Bauchnabel abwärts gelähmt ist. Wenn ich den Arm weit zur Seite strecke, kippe ich aus dem Rollstuhl, weil ich mich nicht halten kann."
Aus dem 48-köpfigen-Starterfeld hätten nur zwei weitere einen ähnlichen Behinderungsgrad wie Langmann. "Die Entwicklung im Rollstuhltennis ist sicher so, dass Leute wie ich aussterben."
Die Sportarten und ihre Klassen
Die Krux an der Einteilung ist, dass die Sport-Verbände alle über ein eigenes Klassifizierungssystem verfügen. So gibt es im Rollstuhltennis lediglich zwei Klassen, beim Schwimmen sind es 14, in der Leichtathletik sogar 45. Alleine auf der Bahn wird in 29 verschiedenen Kategorien gerannt oder gefahren.
Was Langmann im Rollstuhl-Tennis erlebt, kann auch der 32-jährige Para-Schwimmer Andreas Onea berichten. "Ich habe Kollegen mit leichteren Behinderungen - ob das jetzt halbseitige Lähmungen oder Stümpfe sind, die meiner Meinung nach länger sind als das Reglement erlaubt. So blöd das auch klingt. Und die schwimmen gegen dich und haben evident und ganz offensichtlich einen Vorteil."
Medizinischer Befund reicht nicht
Walter Pfaller weiß um die Problematik. Der Salzburger war selbst als Sportler bei fünf Paralympics mit dabei, holte 1988 Gold im Fünfkampf, dazu eine Silber- und zwei Bronze-Medaillen. In Paris ist der 66-Jährige wie schon in den Jahren zuvor Delegationsleiter des ÖPC-Teams. Pfaller war zudem lange Jahre ausgebildeter Klassifizierer im Rollstuhl-Basketball, weiß also, wie das Prozedere und die Einteilung abläuft.
Getestet wird bei internationalen Wettkämpfen. Die Sportler müssen zuvor ihre Teilnahme sowie ihre nationale Einstufung melden. "Manchmal gibt es nur Tests, manchmal aber auch eine Kombination aus Tests und Beobachtung", sagt Pfaller: "So wird zum Beispiel beim Schwimmen beobachtet, wie sich der Athlet, die Athletin im Wasser verhält." Ein medizinischer Befund alleine reicht jedenfalls nicht. "Da ist man nie ganz sicher, ob der richtig ist oder nicht."
Dennoch gebe es immer wieder die Versuche zu schwindeln: "Weil es dann mehr Möglichkeiten gibt oder Vorteile beim Wettkampf." Das hat auch Onea in der Vergangenheit schon erlebt: "Beim Wettkampf können sie dann plötzlich Dinge, die sie bei der Klassifizierung nicht konnten." Dazu gebe es "Borderliner", wie es Pfaller nennt. Was mit der Breite einer Klasse zu tun hat. "Wenn jemand in eine tiefere Klasse rutscht, ist er dort einer der Besseren. Würde es hingegen nach oben gehen, ist er in der nächsten Klasse bei den Schlechteren."
Ungerechtes System?
"Dass dieses System natürlich nicht zu 100 Prozent gerecht ist, kann man nicht verleugnen", weiß Pfaller, sagt aber auch: "Würde man diese Breite der Klassen enger gestalten, würde man viel mehr Klassen haben. Und dann ist wieder die Frage: Wie verkaufe ich meinen Sport?" Denn dann würde es plötzlich Bewerbe geben, in denen derart wenige Athletinnen und Athleten starten würden, dass es für fast alle eine fixe Medaille gebe.
Hier müsse man laut Pfaller die richtige Balance finden. "Momentan geht es in die Richtung, dass man viele schwerere Behinderte verliert. Weil einfach die Klassen zusammengelegt werden und ein schwerer Behinderter dann nicht mehr die Chance hat, eine Medaille zu gewinnen."
Die Hoffnung auf Besserung ist nur klein, auch, wenn es nach den Paralympics in Paris einen neuen Classification-Code geben wird, der Anfang 2025 in Kraft tritt. "Es bleibt komplex. Und es wird sich wahrscheinlich auch nicht lösen lassen", bleibt Pfaller realistisch: "Aber es ist trotzdem wichtig, dass es immer evaluiert wird."
- Die Klassifizierung
Die Sportlerinnen und Sportler durchlaufen vor der Paralympics-Teilnahme einen Klassifizierungsprozess. Dabei werden sie in Gruppen mit ähnlichen Voraussetzungen, Einschränkungen oder Fähigkeiten eingeteilt, um eine Vergleichbarkeit der Leistungen sicherzustellen. Dieser Prozess wird von einem Gremium aus medizinischen und technischen Expertinnen und Experten durchgeführt.
- Klassen-Einteilung
Da kein kein einheitliches Klassifizierungssystem existiert, das für alle Disziplinen geeignet ist, verfügt jede paralympische Sportart über eine spezifische Einteilung. So variiert die Anzahl vom Tennis (2 Klassen), Tischtennis (11), Radsport (13) bis hin zur Leichtathletik (45) sehr stark.
- Buchstaben und Zahlen
Die verschiedenen Klassifizierungen werden im Normalfall durch einen Buchstaben gekennzeichnet, dem Anfangsbuchstaben der Sportart. Dahinter folgt eine Zahl. Je niedriger diese ist, umso ausgeprägter sind die Einschränkungen. Schwimmer Andreas Onea startet etwa in der Klasse SB8 (Schwimmen Brust, Klasse 8 von insgesamt 9 mit körperlicher Beeinträchtigung). Dieses System wird allerdings nicht einheitlich verwendet.
Paralympische Entwicklung
Auch für die Sportlerinnen und Sportler, wie Onea sagt: "Es ist die Bereitschaft da, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Weil man eben verstanden hat, wenn jemand ins Schwimm-Becken schaut und sich fragt: 'Warum gewinnt der jetzt vor dem anderen, warum ist der in der Klasse?'. Dann schütteln alle den Kopf und keiner schaut mehr unseren Sport. Und das wollen wir natürlich nicht."
Der paralympische Sport habe sich in den letzten Jahren enorm entwickelt. "Dinge, die für manche Behinderungsformen vor ein paar Jahren nicht möglich waren, sind jetzt plötzlich möglich. Aufgrund medizinischer Fortschritte, aufgrund der Trainingswissenschaft. Ich möchte keinem der entscheidet, diese Entscheidung abnehmen. Aber es ist wichtig, dass man sich damit auseinandersetzt. Im Endeffekt muss die Emotion da sein: Wer als erster angeschlagen hat, gewinnt fair. Und das müssen wir nach außen verkaufen und der Welt zeigen, was wir im Stande sind zu tun."
Hinweis: Die Pressereise zu den Paralympics in Paris erfolgte auf Einladung und Kosten des Österreichischen Paralympischen Committees.