Sport/Fußball

WM in Katar: Potpourri von vermeintlichen Gegensätzen

Von Bernd Fisa

Als Kind haben mich die Plakate „Wien ist anders“ fasziniert. Sie haben mich am Stadtrand auf der Autobahn begrüßt, wenn wir vom Urlaub nach Hause gekommen sind. Die Plakatkampagne brachte der Welt die Einzigartigkeit der Bundeshauptstadt näher, jener Metropole, die seit gut einem Jahrzehnt jährlich zur weltweit besten Stadt in puncto Lebensqualität gewählt wird. Die Botschaft propagierte nicht nur diese besondere Güteklasse, sondern war zugleich Einladung, das Alpenland und die Dinge einmal anders zu sehen.

Seit November letzten Jahres habe ich Katar monatlich besucht. Ich begann, in eine Welt einzutauchen, die so anders, so verwirrend und so facettenreich ist, dass ich in der Heimat stets Mühe hatte, meine morgenländischen Eindrücke zu vermitteln.

Darf man Katar und die erste Weltmeisterschaft in einem arabischen Land überhaupt gut finden, wenn der Westen beschlossen hat, dass das weltweit größte Sportereignis in diesem Schurkenstaat zu verdammen ist? Ich habe mit meiner Meinung nicht hinter den österreichischen Bergen gehalten und bin in den letzten Monaten auf nichts als Unverständnis getroffen. Und doch fällt die Bilanz nach fünf Wochen in Doha positiv aus.

Bernd Fisa ist sportpolitischer Berater. Der Wiener war Pressesprecher von Michael Schumacher und hat die FIFA fünf Jahre lang beraten. Davor war er Sportredakteur im KURIER.

Auf Augenhöhe

Die WM vor Ort lebt den wütenden Kampf der Kulturen und das machtpolitische Verlangen nach der einzig wahren und allein möglichen Lebensform nicht aus. Es fehlt an Hyperventilation und künstlicher Aufgeregtheit. Egal ob am Markt, in der U-Bahn oder im Stadion – Fans und Weltkulturen begegnen einander mit Respekt und auf Augenhöhe. Je länger die WM geht, desto mehr erinnert sie an das deutsche Sommermärchen von 2006.

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Es ist ein Fest der Begegnungen, ein ungewöhnliches Potpourri von vermeintlichen Gegensätzen: Free-Palestine-Armbinden; Frauen voll verhüllt im Hijab, daneben welche im Minikleid; Katarer, die mit Saudi-Schals herumlaufen; Amerikaner, die Iraner trösten; keine grölenden Betrunkenen oder Hooligans.

Die Menschen hier sind tolerant gegenüber politischen und religiösen Gegensätzen. Das hätte im Vorfeld niemand erwartet. Zwölf Jahre, seit der Vergabe der WM 2010 an das reiche Emirat, haben internationale Medien und unterschiedlichste Stakeholder über die Vertretbarkeit einer WM in Katar debattiert.

Wem gehört der Fußball?

Natürlich ging es in erster Linie um Machtpolitik und um die Frage, wem der Fußball eigentlich gehört. Zuletzt war die Stimmung dermaßen aufgeheizt, dass die Situation zu eskalieren drohte. Die Westler haben Katar Ausbeutung und Korruption vorgeworfen, die Katarer dem Westen im Gegenzug Rassismus und Scheinheiligkeit unterstellt. Und niemand auf der Welt- und Fußball-Bühne war in der Lage, diese Diskussion geopolitisch und kulturell vernünftig einzuordnen – kein Staatsoberhaupt, kein Fußball-Funktionär.

Bis die Fans die Sache selbst in die Hand genommen haben, aufeinander zugegangen sind, und der Welt eine Antwort gegeben haben, auf die überhaupt keiner mehr vorbereitet war. Peace! Frieden! „Sport ist mächtiger als Regierungen, wenn es darum geht Barrieren niederzureißen“, hat Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela einst gesagt. Ich weiß nicht, ob der legendäre Sager von „der weltbewegenden, heilenden Kraft des Sports“ immer und überall zutrifft. In letzter Zeit tendieren wir dazu, den Fußball mit Werten, Sehnsüchten und Wünschen zu überladen. Manches kann er gar nicht schaffen. Oder zumindest nicht immer und dauerhaft. Dass er aber einen Beitrag leisten kann, einen sehr substanziellen sogar, einen etwas anderen, belegt gerade diese WM in Doha.

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